Das Ende der Liebe
sie wollen den Menschen vor allem vorschreiben, was sie zu lieben haben.
Ihre Bilder sind Befehle: »Liebe dieses! Liebe jenes!« Die freien Menschen begegnen in der Öffentlichkeit permanent Bildern, also Befehlen, die ihr Privatestes betreffen. Aus den Lautsprechern, aus denen im totalitären Staat politische Parolen kamen, kommen jetzt private. Befohlen wird nicht der Hass auf den Feind, sondern die Liebe zum Schönen, Erregenden.
[267] Es gibt keinen öffentlichen Ort mehr, an dem nicht vom Intimsten immerzu die Rede wäre, der nicht umstellt wäre von Bildern, die das Intimste zeigen. Werbeflächen, Zeitungsseiten, Bildschirme verwandeln jeden Platz, jeden Bahnsteig in ein Boudoir. Umgekehrt müssten sich die freien Menschen, um sich einmal ungestört als öffentliche Personen empfinden zu können, zurückziehen in ihre Wohnung, in die intimsten ihrer Räume. Die Menschen sagen: »Eine öffentliche Person kann ich unverletzt nur zu Hause sein in meinem Schlafzimmer oder im Bad. Sobald ich diese Räume verlasse, wird mein Öffentlichsein permanent verletzt.«
Dabei sind die Bedürfnisse, die die Bilder wecken, gar nicht künstlich. Die Industrie ist wenig kreativ. Vielmehr spiegeln sie nur die vorhandenen Bedürfnisse, machen damit jedoch aus Akten freien Willens Akte von Gehorsam . Der Vorgang gleicht der Schikane, einen Gefangenen permanent in jene Richtung zu schubsen, in die er ohnehin geht. Lieben die Menschen langes Haar, so schreien die Bilder in einem fort: »Liebe langes Haar! Liebe langes Haar!« Augenblicklich erscheint den Menschen dieses Bedürfnis nicht mehr als das eigene.
Diese sogenannte Künstlichkeit und Gemachtheit legt sich also wie eine Folie über das Vorhandene. Die Menschen sehen, was sie sich wünschen, immerzu in Zeitschriften und im Fernsehen, und so werden sie des Eigenen enteignet allein dadurch, dass sie die eigene Wahrheit permanent aus fremdem Munde erfahren, sie geschubst werden, wo sie gehen wollen.
Bereits als die Menschen von der Liebe erstmals in Romanen lasen, erhob sich bald der Zweifel: »Liebe ich nur, weil ich davon gelesen habe? Hat der Roman mir etwas in den Kopf gesetzt, was vorher nicht dort gewesen ist?« – Um wie viel größer muss der Zweifel heute sein! Wie kann den Menschen [268] die Liebe noch als ihre Liebe gelten, wenn das, was sie lieben wollen, sie anspringt von jeder Hauswand. Um wie viel alarmierter ist ihr Bewusstsein ohnehin, da es sich doch als frei verstehen will , als selbständig, originell und einzigartig.
So offenbart sich die Nichtliebe der freien Menschen auch als unglücklicher, wortloser Protest gegen eine Industrie, die die Liebe propagiert – wie einst die Kirche Gott, der totale Staat den Hass.
Schließlich sind die Menschen in der Geschichte zwar nicht immer künstlicher geworden, doch sie hatten mit der Zeit einen immer größeren Anteil an ihrer Künstlichkeit. Die freien Menschen sind kein Fabrikat mehr der Schule, des Militärs, sondern ihrer eigenen Träume und Ambitionen (die gleichwohl überall von der Umwelt befohlen werden: »Lebe deinen Traum! Verändere dich selbst!«). Die freien Menschen erfahren sich als umso künstlicher und gemachter, je mehr sie selbst am Werke sind. Je mehr Selbstverwirklichung sie betreiben, umso befremdeter sind sie von ihrem Selbst, da es ihnen umso mehr als künstliches und gemachtes bewusst wird.
Je mehr Möglichkeiten sie also nutzen, umso mehr erfahren sie sich als Kunstwerk, also als Verleugnung ihres alten, ursprünglichen Selbst. Sie können nicht mehr empfinden, dass ein Anderer sie um ihrer selbst willen liebte, denn von diesem – alten – Selbst ist ja nichts mehr übrig. Es liegt vergraben unter dem Flussgeschiebe ihres sogenannten Lebenslaufs.
Das Bewusstsein hasst die unbegrenzten Möglichkeiten, den sogenannten Leistungsstress , die sogenannte Selbstverwirklichungsmanie . Zugleich aber ist es selbst eine Selbstüberschreitung, denn es will sich ja von diesem Stress, dieser Manie befreien. Es will eine Überschreitung der Selbstüberschreitung [269] sein. Es will aller Entwicklung noch die paradoxe Krone aufsetzen: Das Bewusstsein versucht, frei von allen Entwicklungszwängen, sich selbst treu zu sein.
Die Menschen schämen sich aller Erfolge, die sie errungen, aller Orte, an denen sie gelebt, aller Entwicklungen, die sie sich abgezwungen haben. Sie kommen sich vor wie eine Litfaßsäule, an der alle ihre Erfolge, Orte, Entwicklungen nur kleben wie Werbeplakate.
Ja, sie
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