Das Ende der Männer: und der Aufstieg der Frauen (German Edition)
Pflichtbewusstsein – denn ein solcher Fehler hätte, wie die Dozentin erklärte, zu einer tödlichen Dosierung geführt.
Wie viele Frauen, die ich im Verlauf meiner Recherchen kennenlernte, betrachtete sich Hannah nicht als feministische Wegbereiterin oder als Frau an der Spitze irgendeiner Bewegung. Sie sah sich einfach als jemand, der eines Tages eine Brücke vor sich erkannte und sie überquerte. Frauen wie Hannah erinnern mich an Immigranten, ähnlich meinen Eltern: Sie werden von einer dämonischen, mysteriösen Energie angetrieben, die sie immer weiter vorwärtsdrängt, auch wenn sie nicht wissen, was sie erwartet, und ein bisschen nervös sind. Durch dieses stetige Voranschreiten befindet sich unser Land im ständigen Wandel. Hannah wirkte entschlossen und so, als könne man sie nicht aufhalten, sie wollte nicht lange darüber nachgrübeln, was die Zukunft bringen würde. Alle Frauen, die sie kannte, versuchten, mit dem Strom nach oben zu schwimmen, während die Männer in die Strudel gerieten – die Männer, die zum Pendant der Familie wurden, die in der alten Heimat zurückblieb, durchaus geliebt, aber träge und heillos in der Vergangenheit hängengeblieben?
Hannah trägt die Haare jetzt in einem welligen roten Pagenkopf. Das alte Augenbrauenpiercing ist kaum noch zu sehen, und ihre Tätowierung auf dem Steißbein ist gut versteckt unter dem »Businessoutfit«, das die Fakultät den Studierenden unter den Labormänteln vorschreibt. Aber auch ohne Laborkittel wird Hannah von ihren alten Freunden kaum noch erkannt. Bei einem meiner Besuche gingen wir abends in einer Kneipe namens Caddy Shack essen, die Hannahs Mutter in einer nahe gelegenen Stadt betreibt. An der Bar arbeitet ein ehemaliger Schulkamerad von Billy, der eine Weile brauchte, bis er erkannte, dass Hannah Billys Freundin war, und bis ihm wieder einfiel, dass sie Pharmazie studierte. »Ich kenne ein Mädchen, das Pharmazie studiert hat«, hob er an. »Heute verdient sie sechsstellig.« Hannah lächelte nur, sie wollte eindeutig nicht in einer überfüllten Bar über Geld reden. »Ich selbst bevorzuge ja die guten alten Hausmittel«, fügte er hinzu. »Ingwer-Brandy.«
Hannah und Billy lernten sich auf der Highschool kennen und führten nach der Schule ein ausgelassenes Leben, feierten, kifften, gingen auf Raves und hielten sich mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser. Seit damals sind beide ruhiger geworden und haben sich weiterentwickelt, allerdings in unterschiedliche Richtungen. Billy lernte das Streichen vom Vater einer Exfreundin und arbeitet immer noch als Maler, allerdings weniger häufig als früher, weil die Aufträge ausbleiben. Nach der Arbeit oder wenn er keine Arbeit hat, geht er mit seinen Kumpels angeln. »Jeden verdammten Tag«, sagt Hannah. »Damit ist er zufrieden, mehr will er gar nicht.« Wenn sein Leben eine gerade Linie mit ein paar Dellen ist, die für die arbeitslosen Phasen in den letzten Jahren stehen, ist Hannahs Leben eine stetige Kurve nach oben. Hannah ist ruhig und zurückhaltend und ein bisschen ein Stubenhocker, aber sie hat eine innere Energie, die andere erschöpft.
Alles begann damit, dass sie stundenweise als Lagerarbeiterin für ein Pharmaunternehmen arbeitete, ein Job, der wenige Kenntnisse und keine Ausbildung erfordert. Hannah räumte gerade Medikamente ins Regal, als eine ältere Frau, die Pharmazeutin war, sie etwas fragte:
»Wo ist das Trileptal?«
»Bei den Oxcarbazepinen«, antwortete Hannah und verwendete die generische Bezeichnung für den Wirkstoff anstelle des Handelsnamens. Hannah schilderte mir die Szene: »Sie drehte sich um und sah mich total verwundert an.«
»Sie sollten Pharmazie studieren«, sagte die Frau.
»Warum, nur weil ich die Wirkstoffbezeichnungen kenne?« Aber der Gedanke ließ Hannah nicht mehr los, und schon bald dachte sie: »Ich sollte wieder auf die Schule. Ich muss einfach.« Sie ging aufs College, machte ihren Abschluss und bekam einen Studienplatz an der University of Wisconsin. In den letzten Prüfungen hatte sie sehr gute Noten und zählt nun zu den besten Studenten ihres Semesters.
Im Winter hat sie entschieden, nicht zum jährlichen Wohltätigkeitsball der Pharmazeuten zu gehen, weil sie Billy nicht mitnehmen will. »Er würde sich völlig fehl am Platz fühlen. Die Leute dort sind sehr gebildet, er hätte das Gefühl, nicht dazuzugehören. Es wäre mir peinlich für ihn. Ich kenne ihn, und ich liebe ihn so, wie er ist. Aber er würde sich nicht wohl
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