Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
die Abgründe eines Menschen nie.
»Wohin hast du das Geld denn geschickt?«, flüstere ich, die Finger an seinem Arm, ich bewege sie. Und er hebt die Stimme, sie zittert, und meine Hände sind da, und er sagt es, er gibt es preis, er erzählt es mir.
Ich sehe ihm den ganzen Kummer an, aber ich weiß nicht, woher er kommt oder was ich dagegen tun kann. Ich weiß nicht mal, ob ich etwas dagegen tun will, denn ich habe gelernt, dass tiefer Kummer aus Sehnsucht nach etwas Verlorenem das Schönste auf der Welt ist.
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16.
D as war Evie«, sage ich. »Evie. Sie hat mich angerufen.«
Ich übe diese Worte ein, immer und immer wieder. Ich spreche sie bis in die Morgenstunden vor mich hin, komplett angezogen unter der Decke, ich warte darauf, dass es hell wird.
Ich halte sie in der Hand, die Lösung, die Möglichkeit, alles zu beenden. Ich weiß nur noch nicht, wie ich sie nutzen kann. Ich muss herausfinden, ob ich Pete schützen will, oder ob er das vielleicht gar nicht möchte.
Ich beschließe, ihn zu schützen.
In den paar Minuten, der halben Stunde, nachdem er mich so beschenkt hat, na ja, da habe ich ihm auch gegeben, was ich konnte, und ich bereue es nicht.
Ich habe ihn ja nur angefasst, es war eher eine Art Heilen, der Versuch, ihm die Hand aufzulegen.
Wie er geschluckt hat, das unterdrückte Stöhnen, meine Hände dort, das war schon wie ein Geschenk für ihn.
Ich weiß, dass ich ihn nicht heilen konnte, diese Wunde, die ihn innerlich zerreißt, wird für immer da sein, unauslöschlich, aber ich habe es versucht, ich habe es wenigstens versucht. Vielleicht habe ich es auch aus anderen Gründen versucht.
Warum auch immer, ich habe es getan, und es tut mir nicht leid.
Und jetzt, meine Mutter ist zur Arbeit gegangen, stehe ich in der Einfahrt, Mr. Verver hält mit dem Arm die Fliegentür auf, für mich. Er sagt Guten Morgen, er hat eine Tasse Kaffee in der Hand und trägt ein rotbraunes T-Shirt mit einem Bild von einem Sonnenuntergang und der Aufschrift, das werde ich nie vergessen, »Paradise Is Yours«.
Ich öffne den Mund.
Meine Lüge ist unglaublich, aber ich zögere nicht einmal.
»Das war Evie«, sage ich. »Evie. Sie hat mich gerade angerufen.«
In meinem Zimmer, als ich sie in mein Kissen gesprochen habe, im Bad, als ich sie vor dem Spiegel geübt habe, klang sie ernsthaft und echt.
Jetzt klingt sie wie eine zitternde Saite, ein Kleinmädchen-Gestotter.
Aber das ist egal. Es ist egal, weil er nur die Worte hört. Die Worte haben magische Kräfte.
Er sieht mich an, und er sagt überhaupt nichts.
Ich zittere, und das macht der Boden unter meinen Füßen. Als ob er wackelt und ich einfach durch ihn durchfallen werde.
Dann schießen seine Hände hervor, wie im Film, die Kaffeetasse fällt mit einem lauten Knall auf die Betonstufen, und er packt mich an den Armen, und in seinem Gesicht liegt alles Drängen, alle Liebe und alles Gewicht der Welt.
Ich fühle mich so mächtig wie ein Gott mit einem Blitz in der Hand.
Und mein Blitz hat eingeschlagen.
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17.
W ir sitzen auf dem Sofa im Wohnzimmer, aber ich habe immer noch das Gefühl von vorhin, als wir in der Tür standen, mein Gesicht an Mr. Ververs Shirt gepresst, und wie er mich festgehalten hat, so fest, sein Arm drückte mir den Hals zu, dass ich dachte, er bricht mir das Genick. Als hätte er vergessen, dass ich noch ein Kind bin und er mich zerdrücken kann.
Ich denke an den Geruch seines T-Shirts, an seinen Geruch. So, wie er immer war, dieser starke, warme Geruch von gemähtem Gras und frischer Luft und Limonen und Weihnachten, alles auf einmal. So viele Dinge, all diese Dinge, ich spüre sie alle so intensiv, und ich muss mich konzentrieren, mir Mühe geben, aber ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren.
»Es war gleich nachdem Mum zur Arbeit gegangen ist«, sage ich. »Das Telefon hat geklingelt, und ich bin rangegangen, und sie hat gesagt ›Lizzie, hier ist Evie. Kannst du mir helfen?‹ Ich hab sie kaum gehört, sie hat geflüstert, ich habe nur Five of Diamonds Motel verstanden. Dann hat sie aufgelegt.«
Fasse dich kurz, sage ich mir, anders kann ich die Geschichte nicht aufrechterhalten.
Kurz bin ich überzeugt, dass er ins Auto einsteigen und losfahren wird, auch wenn er hektisch das Telefonbuch durchblättert, das ihm immer wieder vom Schoß rutscht, und er keine Ahnung hat, wo das Motel ist. Er versucht es zu finden, reißt die Seiten beinahe raus, und fragt mich dabei aus, er kann gar nicht mehr
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