Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
anderes anfängt, und es ist ein lautes, mit kratzenden Geigen und einem Geräusch wie von einem Brummkreisel, sodass einem schon vom Zuhören schwindelig wird.
Mr. Verver beugt sich vor, dreht den Kopf in Richtung Lautsprecher, seine Augen leuchten auf, als er das Lied erkennt.
»Das Lied hatte ich schon ganz vergessen«, sagt er, er spricht schneller und klopft mit den Fingern auf die Armlehne.
Der Refrain geht los, und er springt auf.
Ich bin auf einmal ganz aufgeregt.
»Oh, Lizzie, das habe ich schon seit Jahren nicht mehr gehört. Seit Jahren. Da warst du noch ein Funkeln im Auge deines Vaters. Lizzie, hör dir das an.«
Und das mache ich. Es ist eins dieser Lieder, die ich noch nie gehört habe, die aber ganze Welten an Mr. Ververs Augen vorbeiziehen lassen, goldene Welten, die er sanft in die Hände nimmt und schüttelt und für mich auf Hochglanz poliert.
Dieses Lied, eben war es noch ein Hintergrundgeräusch, das sind sie ja für mich immer, weil mir so viel anderes im Kopf herumschwirrt und mich ablenkt. Aber durch ihn ändert sich das alles. Erst ist es nur ein Geräusch, und dann kommt er mit seinen magischen Kräften, und plötzlich merke ich, dass dieses Lied, welches auch immer es nun gerade ist, das perfekte Lied für Abende wie diese ist, für solche Gefühle.
Plötzlich – aber eigentlich habe ich doch damit gerechnet, mein ganzes Leben lang darauf gewartet, oder zumindest schon seit meinen frühesten Erinnerungen an die Ververs, als ich mit einem glitzernden Heiligenschein bei der Wahl zur Osterkönigin umherstolperte, vier Jahre alt – streckt er mir die Hand hin.
Diese Hand, ausgestreckt.
Und in seinem Gesicht ist diese Verzweiflung, und ich sehe ihm das Bier und den Kummer und die Einsamkeit an. Ich sehe ihm an, wie wichtig es ihm ist. Und wie gut es ihm tut, dass es mir auch wichtig ist.
»Darf ich bitten, Thin Lizzie?«
Für diesen Moment wäre ich gestorben.
Mein Kopf fühlt sich an, als wäre ich das tatsächlich.
Meine Hand gleitet in seine, und ich spüre es bis in die Zehenspitzen.
Das Lied ist nicht gut tanzbar, nicht in dieser Tanzhaltung, aber das ist uns völlig egal.
Er hat einen Arm um meine Hüfte gelegt, die andere Hand hält er hoch, unsere Handflächen liegen ineinander, und mir klopft das Herz bis zum Hals.
Wenn es doch nie aufhören würde, bitte ich heimlich. Könnte es doch nur für immer so weitergehen.
Meine nackten Füße schrammen über die Veranda, sinken dann ins weiche Gras, ich kann ihn nicht ansehen, mein Blick schlingert wie betrunken zur Seite, zu den Drahtrauten des Zauns.
Er erzählt mir irgendetwas, sein Gesicht ist erhitzt vom Lachen, und ich lache auch, und er dreht mich herum, und ich trete gegen die Bierflasche, das Bier schäumt mir warm über den Fuß.
»Du Trampelchen«, lacht er und wirbelt mich herum, seine Hand fest in meine gedrückt, und wie sich das anfühlt, ich kann nicht mehr, ich bekomme keine Luft mehr. Wenn das so weitergeht, kippe ich um, falle in Ohnmacht, ihm vor die Füße.
Aber was, wenn das Lied zu Ende ist?
Und dann ist es zu Ende, mit einem lauten Schlag, und ich bin total erschöpft, und Mr. Verver lässt sich wieder auf seinen Gartenstuhl sinken, und ich mich auf meinen.
Ich denke, wie schnell das alles ging, und wie ihn schon wieder die Traurigkeit übermannt, und mich auch, und jetzt ist es vorbei, und vielleicht werde ich nie wieder mit ihm tanzen.
Diese Leere in meinem Inneren, das ist ein ganz neues Gefühl, so etwas habe ich noch nie erlebt.
Als ich ganz benommen bei den Ververs ins Bad gehe, höre ich meinen Namen, und ich weiß, es ist Dusty. Ich kenne dieses schlangenartige Zischen, es lässt mich erstarren, seitdem ich vier Jahre alt war.
Da steht sie, in Joggingschuhen und verschwitztem T-Shirt. Sie verbringt ihre Abende nicht mehr mit ihrem Vater auf der Veranda, sondern rennt wie eine Verrückte im Kreis.
Sie atmet heftig, ihre Wangen sind gerötet, und es geht eine Hitze von ihr aus, die man fast greifen kann. Ich spüre sie unter meinen Lidern.
»Du gehst wohl gar nicht mehr nach Hause, was?«, fragt sie, das Kinn erhoben.
»Ich habe nur … dein Vater …«, murmele ich, fuchtele mit den Armen und weiche zurück an die Badezimmertür.
Blitzartig krallt sich ihre Hand um meinen Arm, und der Schmerz ist scharf und nimmt mir den Atem.
Es geht alles sehr schnell, sie zerrt mich die Treppe hoch und den Flur entlang.
Sie schleudert mich geradezu in ihr Zimmer und wirft die Tür hinter sich
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