Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
Siegel, den Abdruck seines Lebens und seiner Sorgen. Das hier zu tun, an dieser Stelle, sollte dafür sorgen, dass sie es für immer spürt, mit ihrem ganzen Körper. Und das wird sie. Und ich auch. Ich auch.
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22.
S tunden vergehen, es sind unzählige. Wie wäre es bei den Ververs jetzt ohne die Polizisten, die das ganze Haus blau färben, aus ihren Funkgeräten knistert es, überall sind Detectives in Blazern und schnalzenden Latexhandschuhen. Ihre Augen, wie sie sich bewegen, ihre harten, niemals blinzelnden Augen.
»Lass uns nach Hause gehen«, sagt meine Mutter, es ist fast Mittag. »Lass uns gehen.«
Ich denke daran, wie ich mich vor einer Stunde am Schlafzimmer der Ververs vorbeigeschlichen habe, Mrs. Verver und Evie lagen auf dem Bett, beide mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt, unter Bergen von Decken begraben, Evie von Mrs. Ververs Armen umschlungen, umhüllt.
Ich denke an Mr. Ververs Gesicht, weiß und wild, die Hände beim Herumlaufen zu Fäusten geballt, seine Stimme laut und kräftig. Der Entführer seiner Tochter weg für immer, ich glaube, er empfindet es als Sieg.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Ich kann gar nicht mehr denken.
Als wir nach Hause gehen, frage ich mich, wie ich den Rest des Tages herumbringen soll, die ganzen Stunden, die ganzen nächsten Wochen. Wie soll denn jemals alles zur Ruhe kommen, nicht mehr so beängstigend sein?
Polizeiangaben zufolge hat sich der mutmaßliche Entführer eines dreizehnjährigen Mädchens am Dienstag vor dem Haus seines Opfers das Leben genommen.
Harold K. Shaw, 45, starb an einer Schussverletzung, die er sich laut der Polizei selbst zugefügt hat. Die Familie seines mutmaßlichen Entführungsopfers fand ihn am Dienstagmorgen in ihrem Garten.
Shaw wurde wegen Entführung und Kindesmissbrauchs gesucht. Nach Polizeiangaben entführte Shaw das Mädchen am 28. Mai vor ihrer Schule und war dann drei Wochen lang mit ihr auf der Flucht.
Es wurde kein Abschiedsbrief gefunden.
Ich lese mir den Artikel fünfmal durch, zehnmal, und finde nichts. Nichts von Bedeutung.
Ich drehe und wende es hin und her und frage mich, ob ich es je verstehen werde. Wenn Evie Mr. Shaw angeschaut hat, in den Motelzimmern, in diesen Zimmern, wo sie auf kratziger Bettwäsche saß, auf Bettwäsche, die teilweise durchgescheuert war, als sie Mr. Shaw gegenübersaß, hat sie ihn da angeschaut und etwas so Wunderschönes gesehen, oder etwas so Hässliches, dass sie einfach nicht wegsehen konnte, dass sie nie wegsehen konnte, egal, was er tat oder tun wollte?
Was hat sie dabei gefühlt, ihn dort zu sehen, in sich selbst gefangen, wie er sich über sie beugte, wenn sie auf dem Bett saß?
Evies Kiefer knackt manchmal, wenn sie den Mund weit aufmacht oder etwas isst. Wenn sie ihn geküsst hat, hat er es da knacken hören, wie eine Pistole? Hat sie den Mund weit aufgemacht, wie ein Tier, für ihn, und hat er es knacken hören, wie die Sicherung an einer Waffe?
Es ist acht Uhr am nächsten Abend, als Mr. Verver mich im Garten entdeckt, ich sitze im Liegestuhl und rolle einen Fußball meine Beine hoch und runter.
Er legt die Arme auf den Drahtzaun.
»Wie geht’s dir?« Jeder fragt mich das, meine Mutter, unser Hausarzt und die Frau in der Beratungsstelle, zu der mich meine Mutter schickt. Ich sage immer wieder, dass ich gar nicht gesehen habe, wie es passiert ist. Dass ich kein Trauma erlitten habe. Ich sage es so oft, dass es mir schon gar nicht mehr wahr vorkommt.
Aber als er mich fragt, ist es anders. Es ist einfach anders. Irgendetwas stupst mich innerlich an, und ich vergesse alles um mich herum und bin voller eigener Erinnerungen, der Waschmittelduft im Keller, sein sonnenverbranntes Gesicht, meine Finger um sein Handgelenk, mein Puls an seinem, den ich bis in die Zehenspitzen spüre. Ich will das wieder haben.
»Ganz gut«, sage ich und gehe zum Zaun. Erst jetzt kommt mir der Gedanke: Was hat er gedacht, als er mich von Mr. Shaw wegreißen musste? Was denkt er darüber? »Ich weiß nicht, wie’s mir geht.«
Er lächelt matt. »Ich weiß, wie’s dir geht«, sagt er, streckt die Hand aus, legt sie mir auf den Kopf und dreht mir eine Haarsträhne ums Ohr.
Ich lasse seine Hand dort, ich weiß, dass ich sie noch tagelang fühlen werde, ein Leben lang.
»Bitte komm rüber, Lizzie«, sagt er. »Sie möchte, dass du rüberkommst.«
Ich öffne die Tür zu ihrem Zimmer, Evie sitzt im Schneidersitz auf dem Bett und starrt aus dem Fenster.
»Mom will ihn
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