Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
schießt zu der schwarzen Masse unter dem Baum, und drei Meter davor bleibe ich abrupt stehen.
Ich halte mir die schmerzende Brust und bleibe stehen.
Er liegt da, ein Arm auf der Seite, wie um einen Schneeengel zu machen. Das schwarze Ding in seiner Hand, die Pistole, sieht so klein aus.
Ich lasse es zu, dass ich hingucke. Ich kann mich nicht daran hindern.
Ich sehe auf Mr. Shaw hinunter, seine Augen sind weit aufgerissen, der Mund auch, der Mund ist ein zerklüftetes, schwarzes Loch.
Als wäre etwas Schwarzes in ihm explodiert und seine linke Wange wäre voller Ruß.
Als wäre das Ding in ihm, das dunkle, hilflose Ding, so riesig geworden, dass er es nicht mehr im Zaum halten konnte. Er konnte es nicht mehr beherrschen. Es hat ihn übernommen.
Seine Augen sind offen und sehen in die Zweige des Birnbaums hinauf, und ich wette, er wünscht sich immer noch, sie anzusehen, zu ihrem Fenster hochzuschauen, für immer so zu bleiben, für immer.
Dann fällt mir ein: Wo ist Evie eigentlich? Wo ist sie? Das hier ist doch für sie, damit sie darüber weint und seinen Namen ruft und auf die Knie fällt wie im Film, Zeitlupe, aufbrandende Musik.
Weil er hier auf dich wartet, Evie, merkst du das nicht?
Ich drehe mich um und sehe sie oben an ihrem Fenster. Sie hat sich gar nicht bewegt. Sie sieht zu mir herunter und beobachtet mich. Ich will das Entsetzen in ihrem Gesicht sehen, den tosenden Kummer und die Verwirrung. Ich will es alles sehen. Ich will, dass sie es mir zeigt, und ihm.
Aber in ihrem Gesicht ist nichts. Stocksteif und mit leerem Blick, wie eine alte Wachspuppe, die am Fenstersims befestigt ist.
Wo sind sie, Evie? Wo sind deine Gefühle?
Wenn ich dir ins Gesicht gucke, ist da nichts.
Diese Leere macht mir Angst.
Was ist passiert, Evie, was hat dir das Gesicht genommen, was hat es so leer gemacht? Was ist mit Evie passiert?
In diesem Moment spüre ich, wie Mr. Verver mich um die Taille packt und mich herumwirbelt.
Er versucht, mich von Mr. Shaw wegzuziehen, aber ich bin noch nicht fertig.
Mr. Ververs Hände liegen auf mir, er packt fest zu, aber ich bin stärker, ich schlüpfe aus seinen Armen und zurück zu Mr. Shaw.
Mr. Shaw, mit weit offenen Augen, und ich hatte nie die Chance, einmal diesen schweren, liebeskranken Blick auf mir zu sehen. Und da ist er nun, die Augen für immer offen, wie in einem wundersamen Traum.
All diese Tage, diese endlosen Tage, an denen ich versucht habe, in ihn hineinzukriechen, mich durchzuwühlen, jetzt kann mich nichts mehr zurückhalten.
Ich will Mr. Shaw für immer ins Gesicht sehen.
Ich merke, dass ich auf den Rasen sinke, auf Hände und Knie, ihn anstarre, mein Gesicht so nah an ihm, dass sein Geruch mir in der Nase brennt, nach Rauch und Schweiß und namenlosen Dingen, und ich senke das Gesicht fast bis in den feuchten Schmutz, nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt.
Sein Gesicht.
Ich sehe dort kein Entsetzen, nicht die Pistole in seinen Fingern, nicht das Blut, das auf den Baumstamm gespritzt ist.
Nicht einmal den dunklen Tunnel mitten in seinem Gesicht.
Den dunklen Tunnel, in den ich jetzt starre, als könnte ich durch ihn hindurchgehen, als könnte er mich ganz verschlucken, und ich würde das bereitwillig zulassen, mal sehen, wohin er führt, welche Geheimnisse er mir verrät, Geheimnisse, die Evie in sich verschlossen hält, so fest, so unberührbar.
Sie hält es so tief in sich verborgen, versteckt es sogar vor ihrem Gesicht, zieht sich eine Maske über, aber er nicht. Er wird es mir zeigen.
Mr. Ververs Arm über meiner Brust, er versucht, mich wegzuziehen, aber ich gehe nicht weg, ich gehe nicht.
Diese Augen, aufgerissen, sie sehen mich direkt an.
Zum ersten Mal überhaupt sehen diese Augen mich direkt an, direkt in mein schwarzes Herz.
Mein Herz.
Mein Körper fliegt herum, wird herumgewirbelt von Mr. Verver, er bedeckt mit den Händen mein Gesicht, meine Augen. Meine Knie treffen aufs Gras, meine Beine geben unter mir nach, und ich sehe nichts mehr.
Aber das macht nichts. Es macht nichts, weil es nur eine Sekunde brauchte. Es brauchte nur eine Sekunde.
Jetzt weiß ich, wie es für Evie war. Sie hat ihm in die Augen gesehen und gedacht, oh, was er alles wissen muss, welche glitzernden Schätze und wilden Ängste und abgrundtiefes Bedauern, die wir erst in zig Jahren kennen werden. Er trug all dieses Wissen in sich, Verluste und Gefühle, und sie waren für Evie bestimmt, er wollte sie ihr darbringen, ihr aufdrücken, sein ureigenstes
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