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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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fällen lassen«, sagt sie, und wir betrachten den Birnbaum, seine festen, glänzenden Blätter, seine rauschende Üppigkeit. Ihr Gesicht ist so still. Jetzt denke ich, die Ruhe, diese Leere, ist ein Trick. Sie kann es mir noch nicht zeigen. Sie versteckt alles hinter dieser Maske. Aber sie wird es mir zeigen, bestimmt. Ich werde es für ihn herausfinden.
    »Evie«, sage ich, und sie sieht mich an, ohne zu blinzeln.
    »Es ist vorbei«, sagt sie, es ist fast ein Seufzer. »Es ist vorbei.«
    Wir schleifen die Schlafsäcke nach draußen, auf den stoppeligen Rasen hinter unserem Haus.
    Es ist sehr heiß, und im Haus ist es kühl wie in einer Blechdose, aber Evie will draußen sein, also schleichen wir uns hinaus, Evie tippt den Sicherheitscode in das Kästchen neben der Tür.
    So übermütig, so leichtsinnig, das zischende Geräusch, als die Tür aufgeht, und die drückende Nachtluft in unsere Lungen strömt.
    Trotz allem, trotz der Schwüle, der Stickigkeit, haben wir ein schwindelerregendes Gefühl von Freiheit in der Brust.
    Außerdem – was soll noch passieren? Alles, was passieren konnte, ist vorbei.
    In meinem Kopf der Anblick dieses dunklen Mundes, wie ein Tunnel, dieser Schacht von einem Mund, in den man unendlich tief hätte hineinsinken können, ohne je das glänzende Innere zu erreichen.
    Wir denken nicht einmal daran, in den Garten der Ververs zu gehen, zu der gespenstischen Stelle mittendrin. Wir schleichen durch die Einfahrt hinüber in unseren Garten.
    Wir tragen T-Shirts und Unterwäsche und liegen auf unseren Schlafsäcken. Evie zieht sich immer wieder die Haare aus dem verschwitzten Nacken.
    Die Luft steht. Alles ist von der neuen Verandalampe erleuchtet, der größten, die ich je gesehen habe, ihr globusartiger Schirm sieht aus wie ein milchiger Mond.
    Überall sind Zikaden und blinkende Glühwürmchen. Ich strecke die Zehen aus, sie fühlen sich trocken und kratzig an, wo sie den Schlafsack berühren.
    Ich versuche, Evie zu verstehen, ihre Gemütsruhe. Ich sehe sie immer noch dort oben am Fenster stehen, ihr Gesicht wie aus Wachs.
    »Evie«, wage ich mich vor, »weißt du noch, wie du mir die Zigarettenkippen gezeigt hast?«
    Ich bohre mit den Fingern im Gras, in der kühlen Erde.
    Sie windet sich, streckt die Ellbogen raus und zupft sich das klebrige T-Shirt vom verschwitzten Oberkörper.
    »Ja«, sagt sie. »Dad hat mir erzählt, wie sehr du geholfen hast. Dass du der Polizei alles erzählt hast.«
    »Ehrlich?«, frage ich, und meine heißen Wangen werden noch heißer, und ich lege die Hände darum.
    Ich hätte gern gehört, was genau er gesagt hat, und wie er es gesagt hat. Welche Worte er benutzt hat, und wie sein Gesicht aussah, als er es gesagt hat, und ob er es feierlich gesagt hat, wie er so etwas manchmal tut.
    »Und von dem Anruf hat er erzählt«, sagt sie. Darauf habe ich gewartet. »Dass du gesagt hast, ich hätte dich angerufen. Aus dem Motel. Ich habe gesagt, ja, das habe ich wohl. Dich angerufen.«
    Ich sehe sie an. Und sie sieht mich an. Der Moment dauert lang, und ich gebe als Erste auf.
    »Pete Shaw«, sage ich. »Er hat mir gesagt, wo ihr seid.«
    Sie nickt langsam, lässt es auf sich wirken. Dann lässt sie los.
    »Dad sagt, dass wir das alles dir zu verdanken haben«, sagt sie, ihr ganzer Körper ist angespannt, und ihre Stimme klingt ein wenig seltsam. »Es ist alles nur wegen dir.«
    Ihre kleinen Finger sind auf meinem Arm, auf der weichen, mädchenhaften Innenseite mit der Delle.
    »Danke, Lizzie«, sagt sie, ein kaum hörbares Flüstern, fast nur ihr heißer Atem an meinem Ohr.
    Und sie ist wieder Evie. Und unsere Gefühle brechen über uns herein. Wir kuscheln uns eng aneinander, wie vor Jahrhunderten, im Pfadfinderlager, als wir völlig durch den Wind waren von mitternächtlichen Gruselgeschichten, beängstigenden Gewittergeräuschen und Jungs, die sich im Wald versteckten.
    Es ist sehr spät, aber die Hitze geht einfach nicht weg, ich drehe mich zu Evie um, ihre Augen sind geschlossen, aber ich weiß, sie ist wach. Wir sind in diesem Zwischenzustand, in dem es scheinbar keine Regeln gibt außer denen des Halbschlafs und der verlorenen Stunden.
    Ich denke an Evie dort oben am Fenster, wie sie hinaussieht. Auf Mr. Shaws Leiche hinunterblickt und nichts tut, sich nichts anmerken lässt. Ist sie innerlich gestorben? Ist sie jetzt tot?
    Und ich denke an Mr. Verver und was er will. Die Dinge, die er wissen muss; vor allem, dass es Evie gut geht. Dass es ihr wirklich gut geht

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