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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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Wälder, Stunden entfernt. Ein Cottage, von dem Detective Thernstrom ihnen erzählt hatte, eins, das er selbst mal gemietet hatte. Ein Nurdachhaus an einem See.
    Ich stelle sie mir alle in Paddelbooten vor, beim Angeln, am Lagerfeuer, beim Hufeisenwerfen, bei Familienunternehmungen.
    Das stelle ich mir die ganze Zeit vor.
    Vor allem heute Abend, am vierten Juli, als ich mich auf der hinteren Veranda verstecke, mich vor allen verstecke, da stelle ich mir das vor.
    Ich glaube, niemand sieht mich, aber dann höre ich einen Stuhl über den Boden kratzen und zucke zusammen. Es ist Dr. Aiken.
    Er ist schon tagsüber zu uns gekommen, in karierten Shorts und der neuen Brille. Das ist das erste Mal, dass er tagsüber auftaucht, noch vor vier Uhr, und er kam an die Haustür und hatte eine weiße Schachtel mit rotem Band dabei, die er mir mit einem schiefen Lächeln überreichte, dieser Sorte Lächeln von jemandem, der nicht oft lächelt und nicht genau weiß, wie das auszusehen hat. Aber irgendwie ist es okay.
    Als meine Mutter reinkam und ihn sah, wurde sie ganz rosa und rannte nach oben, um T-Shirt und Shorts gegen ein Sommerkleid auszutauschen, das ich noch nie an ihr gesehen habe, mit kleinen blauen Pünktchen. Sie bewegte sich darin sehr elegant.
    In der Schachtel waren Rosinenbrötchen, eine seltsame Idee für den vierten Juli. Er musste meinen Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er sagte, er wollte eigentlich Rice Crispy Treats mitbringen, aber die habe es in der Bäckerei nicht gegeben.
    »Du verpasst ja alles«, sagt Dr. Aiken jetzt auf der Terrasse und streckt mir einen wabbeligen Pappteller hin. »Du lässt dir echt den Limbo-Wettbewerb entgehen?«
    Ich sehe auf den Teller hinunter, es ist eins seiner Rosinenbrötchen, der Zuckerguss schmilzt schon auf den Teller.
    »Ich habe dir eins aufgehoben«, sagt er.
    Ich lächle fast, auch wenn ich mich ganz weit weg fühle, weit weg von all dem. Als würde ich alles durch eine Glasscheibe beobachten.
    »Tatsächlich«, sagt er, »habe ich dir wohl alle aufgehoben.«
    »Haben Sie eigentlich Kinder?«, frage ich, die Hände auf dem Teller, meine Finger werden klebrig.
    »Nein«, sagt er.
    Ich sehe zu ihm auf, seine Brille verrutscht, und ich kann ihm in die Augen sehen.
    »Meine Frau – also, jetzt Exfrau –, wir wollten, aber wir haben keine.«
    Ich sage nichts. Ich merke, dass er mich vorsichtig beobachtet. Dass er beobachtet, ob ich das verstehe. Dass ich verstehe, was er sagt. Ex frau. Und meine Mutter wirbelt in dem blauen Kleid herum.
    »Lizzie«, sagt er mit veränderter Stimme. »Hast du was von den Ververs gehört?«
    »Nein«, sage ich. »Sie kommen bestimmt bald zurück.«
    »Weißt du«, sagt er und setzt sich neben mich auf die Stufe, »ich kenne die beiden Mädchen schon seit Jahren. All ihre Knochenbrüche und geklemmten Finger. Hart im Nehmen, die beiden.«
    »Ja«, sage ich.
    »Ich habe Dusty erst – muss Ende Mai gewesen sein.«
    Ich spüre plötzlich einen Druck in der Luft, aber ich weiß nicht, woher das kommt. Er spricht so vorsichtig.
    »Ihre Eltern haben sie wegen Magenschmerzen zu mir gebracht. Bestimmt der Stress wegen ihrer Schwester. Das war ein paar Tage, nachdem sie verschwunden war.«
    In meinem Kopf flackert etwas auf. Ein Flimmern und Flackern von hundert Gedanken aus den letzten Wochen. Hundert Gedanken, die ich beiseitegeschoben habe, bei denen ich nicht länger verweilen wollte.
    Dustys rasende Wut, als hätte sie es tausendmal gesagt im letzten Monat, wie konnte Evie uns das antun, uns allen.
    »Konnten Sie ihr helfen?«, frage ich. »Ging es ihr hinterher besser?«
    »Ja«, sagt er, nimmt die Brille ab und betrachtet sie, obwohl es dunkel ist, und was soll er da schon erkennen?
    »Sie dürfen nicht über so was reden, oder? Ärztliche Schweigepflicht?«
    »Ja«, sagt er. »Darf ich nicht.«
    Ich nicke.
    »Aber es ist komisch«, fährt er fort, setzt die Brille wieder auf und sieht mich an.
    »Was?«, frage ich, meine Stimme klingt ganz klein.
    »Na ja, sie hat ihren Pullover ausgezogen und war voller Kratzer.«
    »Hockey«, sage ich. »Feldhockey.«
    »Das hat sie auch immer wieder gesagt. Sie hatte lange Kratzer auf den Armen und am Hals.« Er sieht mich durchdringend an, und ich spüre den Druck jetzt in der Brust. Etwas passiert, aber ich weiß nicht, was, es ist wie Donner in meiner Brust.
    »Vom Training. Von den Schlägern und den Stollen. Von …« Meine Stimme kratzt. Was meint er denn? Was bedeutet das?
    »Ich habe Hunderte

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