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Das Ende der Welt (German Edition)

Das Ende der Welt (German Edition)

Titel: Das Ende der Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Höra
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beide kannten. Ich sehe was, was du nicht siehst! Aber da es in der Hütte nicht allzu viel zu sehen gab, ließen wir es bald sein.
    »Warum bist du eigentlich Soldat geworden?«, wollte Leela wissen. »Du hättest doch auch was anderes machen können?«
    »In der Fabrik arbeiten?«, fragte ich.
    »Ja, oder als Arzt oder als Schreiber«, sagte Leela.
    »Ich bin kein Zef«, sagte ich verächtlich. »Ich stamme aus einer Soldatenfamilie. Und es ist eine große Ehre, wenn die Armee ein Kind auswählt. Weißt du eigentlich, was mit schwachen und kranken Säuglingen passiert, die nicht der Senatsbürgerschicht angehören?«
    Sie sah mich erwartungsvoll an.
    »Man wirft sie in die Schlucht der toten Kinder.«
    Leela schüttelte sich. »Wie barbarisch.«
    »Und wenn meine Mutter meine Berufung abgelehnt hätte, hätten wir als Aussätzige leben müssen. Wir hätten in der Schlucht der toten Kinder die Kadaver zu einem Haufen auftürmen müssen. Ich war einmal da unten. Es war wie in einem Wald aus Knochen.«
    »Wie kann man so mit Menschen umgehen?«, fragte Leela angeekelt.
    »Das ist das Beste für sie. In unserer Welt könnten sie nicht überleben. Wer soll sich denn um sie kümmern?«
    Leela zuckte mit den Schultern. »Ihre Eltern?«
    »Du bist wirklich naiv«, warf ich ihr vor.
    »Was?«, fuhr sie hoch. »Nur weil ich nicht so abgestumpft bin wie du?«
    »Weil du in deiner Traumwelt aufgewachsen bist«, sagte ich. »Weil du nur das siehst, was du sehen willst.«
    »Ich bin in Berlin aufgewachsen, da sieht man so einiges. Außerdem bist du ein Idiot«, gab Leela zurück.
    Wir schwiegen uns wütend an, bis wir Hunger bekamen. In der Hütte fand sich nichts Essbares außer einem schimmligen Stück Brot. Leela erzählte von den Kühlkisten, die die Leute früher in ihren Wohnungen hatten, um ihr Essen aufzubewahren. Und als sie von kleinen Maschinen erzählte, mit denen die Menschen innerhalb von Sekunden kochen konnten, knurrten uns die Mägen ziemlich laut. In diesem Moment sah ich durch das Fenster Roger auf die Hütte zustreben. Ich setzte rasch meine Brille auf, und als er mich sah, blieb er wie angewurzelt auf der Schwelle stehen und glotzte ungläubig.
    »Das ist die Brille meines Vaters«, stotterte er aufgeregt.
    »Keine Angst, wir leihen sie uns nur aus«, beruhigte ihn Leela.
    Roger betrachtete mich von allen Seiten. Als ich ihm sagte, dass ich die Brille sowieso nicht lange tragen könne, winkte er ab und sagte: »Ich mache dir Fensterglas rein, das fällt gar nicht auf.«
    »Schade, dass er so wenig Bartwuchs hat«, sagte Leela, »sonst könnte er sich einen Vollbart wachsen lassen.«
    »Ja, und wenn du auf allen vieren gehst und bellst, dann könntest du dich als Hund ausgeben«, sagte ich zu Leela.
    Sie lachte.
    Als Roger mir Fensterglas in die Brille eingesetzt hatte, betrachtete ich mich im Spiegel über dem Waschbecken. Eine nackte Glühbirne baumelte wie ein Erhängter in der Zugluft und beleuchtete mein Gesicht. Ich hatte mich lange nicht gesehen und erschrak: Ich war abgemagert, und mein Aussehen kam mir ziemlich fremd vor, was durch Mütze und Brille noch verstärkt wurde.
    »Deinem Fahndungsbild siehst du gar nicht ähnlich«, sagte Leela.
    Beim Abendessen, lauwarmen Kartoffeln und Muschniks, überlegten wir uns Namen für Leela und mich.
    »Wie wäre es denn mit Hanna und Knips«, schlug Roger vor.
    »Hanna gefällt mir«, sagte Leela.
    »Knips klingt total bescheuert«, murrte ich.
    »Dann lass dir doch was Besseres einfallen«, sagte Roger beleidigt.
    Ich überlegte eine Weile, doch da mir nichts einfiel, entschied ich mich für Knips. Immerhin war es ein weitverbreiteter Vorname.
    Am Morgen waren wir noch Leela und Kjell gewesen, jetzt hießen wir Hanna und Knips. Ich war gespannt, was das Leben noch für Merkwürdigkeiten für mich bereithielt.

22
    Noch vor dem Morgengrauen schlichen wir aus der Siedlung. Wir hatten Roger versprechen müssen, seinen Namen nicht zu erwähnen, wenn wir uns beim Verwalter vorstellten. Wir waren Kriegsflüchtlinge und hatten uns bis zur Siedlung durchgeschlagen.
    Wir versteckten uns in Sichtweite der Siedlung und sahen, wie die Frühschicht, von der Sirene gerufen, in die Fabrik trottete. Bleiche Gestalten, die graue Kittel aus grobem Stoff trugen.
    Die Fabrik bestand aus einer hohen Backsteinhalle, die von zwei Schornsteinen gekrönt war, und mehreren kleineren Gebäuden, die immer noch groß genug waren, um dort ein Bataillon Soldaten unterzubringen. Aus den

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