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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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stirbt, schieben sich ringförmig um den Mutterstamm fünf oder zehn Nachkommen aus dem Boden. Auf diese Art vermehren sie sich. Der Wald war von einem Feuer heimgesucht worden, vielleicht während der großen Oakland-Brände in den Achtzigern, vielleicht schon vor hundert Jahren. In einige der Bäume aus dem Ring hatte das Feuer Höhlen gebrannt, groß genug, um einen kleinen Menschen zu beherbergen. Trotzdem waren die Bäume stark und gesund.
    Auf einem Stein ganz in der Nähe saß der Rote Detektiv.
    »Sieh dich an«, sagte er. »Du schleppst so viele Lügen mit dir herum, dass du die Wahrheit nicht mehr siehst.«
    Ich zuckte die Achseln und setzte mich neben ihn.
    »Möchtest du die Karten befragen«, sagte er, »oder einfach nur hier sitzen?«
    »Einfach nur sitzen«, antwortete ich.
    »Schade«, sagte er, »ich möchte lieber die Karten lesen.«
    Er zog sein altes, verschmutztes Rider-Waite-Tarot aus der Tasche, mischte und zog eine Karte aus dem Stapel. Der Mond.
    »Hab ich’s doch gesagt«, meinte er.
    »Danke«, sagte ich.
    Der Rote Detektiv war kein Detektiv im eigentlichen Sinne, nicht so, wie die meisten Leute sich einen Detektiv vorstellen. Er hatte keine Klienten und löste keine Fälle. Er hatte den größten Teil seines Lebens auf der anderen Seite des Gesetzes verbracht, er hatte Verbrechen begangen und dafür gebüßt. Er sprach mit schwerem Südstaatenakzent, der seine Heimat Louisiana verriet. In Oakland ist ein Südstaatenakzent nichts Besonderes, hat doch scheinbar die Hälfte der Bevölkerung ihre Wurzeln in Louisiana oder Alabama. Es heißt – ich weiß nicht, ob es stimmt –, dass der Rote Detektiv mit dreiunddreißig schon mehr als die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte. Er war keine drei Monate wieder in Freiheit, als er wegen Mordes verhaftet wurde. Bei einer Verurteilung, so viel war klar, hätte ihm eine lebenslange Freiheitsstrafe bevorgestanden.
    Danach widersprechen sich die Versionen. In Oakland wird gemunkelt, er habe ein paar Strippen gezogen und den Richter »bearbeitet«, bis das Verfahren wegen eines Formfehlers eingestellt wurde. In Berkeley sagt man natürlich, das sei rassistisch; er habe seine Freiheit seinem Intellekt zu verdanken, er habe, gestählt durch jahrelange juristische Beschäftigung im Gefängnis, ein Schlupfloch gefunden, das der Richter und alle Anwälte übersehen hatten, und das Gesetz mit seinen eigenen Mitteln geschlagen. In San Francisco geht das Gerücht, eine Frau stecke dahinter; der Rote Detektiv sei ein Zuhälter, und eine seiner Frauen habe auf den Richter eingewirkt, bis der nachgab und eine Ausrede fand, das Verfahren einzustellen.
    Die Silettianer erzählen sich eine andere Geschichte. Die Silettianer behaupten, der Rote Detektiv habe im Gefängnis
Détection
gelesen. Und obwohl dieses Buch von so gut wie niemandem verstanden wurde, hatte er es verstanden. Er mobilisierte seine Privatarmee aus Straßen- und Knastbekanntschaften und setzte das Gelernte ein, um den wahren Mörder ausfindig zu machen. Denn den Mord, den man ihm vorwarf, hatte er gar nicht begangen (wenngleich er andere durchaus begangen hatte).
    Aber mit der Gerechtigkeit haben die Silettianer nichts am Hut. Gerechtigkeit ist etwas für Gerichte und Richter. Silettianer machen sich nur um eins Gedanken, um die Wahrheit.
    Jedenfalls war der Rote Detektiv nun frei. Damals nannte er sich natürlich noch anders. Vielleicht nur Rot. Frei und, wie man sagt, vollkommen mittellos – ohne Familie, Freunde, Geld oder Wohnung. Zunächst verbrachte er eine gewisse Zeit auf den Straßen Oaklands und in wechselnden Obdachlosenheimen, um Hinweise zu sammeln und zu lernen, was die Straße ihn zu lehren hatte. Und dann bewegte er sich bergauf, langsam, Straße für Straße.
    Ich lernte ihn beim Fall des Waschbrettmörders kennen. Ich hatte schon früher von ihm gehört, aber nie wirklich an seine Existenz geglaubt. Damals hatte er sich noch nicht auf den Berg und in den Wald zurückgezogen, sondern lebte in der Innenstadt von Oakland und drängte sich bei Regen mit den anderen Obdachlosen unter eine Markise, um trocken zu bleiben. Er wies mich auf ein Detail hin, das ich dummerweise übersehen hatte: Der Mörder hatte Dreck unter den Fingernägeln, obwohl sein Besuch im Park angeblich lange her war. Manchmal sind wir so blind. Der Rote Detektiv redete nicht viel, und mit mir hätte er kein Wort gewechselt, hätte er nicht gewusst, wer ich war; während seiner Haft hatten er

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