Das Ende der Welt
Gesicht und ihre dunklen Augen dachte, fing ich innerlich zu kochen an.
Manchmal schien es, als wären alle New Yorker Teenager über eine oder zwei Ecken miteinander verwandt. Wir lebten in einer Geheimwelt, zu der man mit vierzehn Zutritt erhielt und die man mit zwanzig wieder verließ, nicht ohne vorher zu schwören, kein Wort über das Erlebte zu verlieren. Es hätte uns sowieso keiner geglaubt.
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24
San Francisco
F ünfzig Tage nach Pauls Tod fuhr ich über die Bay Bridge nach Oakland. Als ich an der Stelle vorbeikam, an der Pauls Auto gestanden hatte, machte ich mich auf ein Gefühl gefasst, aber nichts passierte. Wenigstens redete ich es mir ein. Der Verkehr war dicht, zudem erwischte ich die falsche Ausfahrt und fand mich mitten in Oakland im Stau wieder. Hier sah es aus wie in Brooklyn – viele schöne Altbauten, ursprünglich errichtet für die Mittelschicht, in denen heute Klamottenläden im »New Yorker Stil«, Goldankäufer, Imbissbuden und seit kurzem auch Ausgabestellen für medizinische Joints residierten. Ein paar alteingesessene Geschäfte hielten mit Klauen und Zähnen an ihrem Standort fest, aber in meinen Augen handelte es sich um eine Wende zum Positiven. In jedem Fall fand ich Altgold und gebackene Shrimps besser als I.-Magnin-Nobelkaufhäuser.
Unter einer Markise an der Kreuzung von Broadway und 13 . Straße hatten sich ein paar Obdachlose versammelt, um sich vor dem einsetzenden Regen zu schützen. Ein paar Blocks weiter manövrierte sich ein Rollstuhlfahrer zwischen den Autos hindurch und bettelte um Kleingeld. Die Reifen seines Rollstuhls gerieten auf dem nassen Asphalt ins Schlingern. Er klopfte an meine Seitenscheibe. Ich wollte nicht aufmachen.
Er klopfte immer weiter. Die Ampel schaltete auf Grün, aber ich fuhr nicht an. Ich war mir nicht sicher, wie dicht er neben meinem Wagen stand, ob die Reifen seines Rollstuhls denen meines zerbeulten Mercedes im Weg standen. Er nervte, aber umbringen wollte ich ihn nicht.
»Du Ziege!«, fauchte er. »Du Ziege mit dem schicken Auto. Gib mir Geld.«
Ich sah mich um. Zwei Polizisten standen auf dem Gehsteig und schauten zu. Sie griffen nicht ein und sahen auch nicht so aus, als würden sie es in absehbarer Zeit tun.
Der Mann schlug gegen die Beifahrerscheibe.
»Ziege!«
Die Fahrer hinter mir hupten.
»Ziege! Gib mir Geld, Ziege!«
Ich lehnte mich auf die Hupe. Der Mann schien es nicht zu bemerken; er bewegte sich kein bisschen.
»Verdammte Ziege im Mercedes. Irgendwas musst du mir geben!«
Hinter mir noch mehr Gehupe. Irgendwann traten die Polizisten auf die Straße.
Der Mann rollte schnell davon, brüllte im Regen.
Ich schlängelte mich durch Downtown, bog ein paarmal falsch ab und fand mich schließlich auf dem richtigen Kurs wieder, auf dem Weg in die Berge. Weil ich vom Autofahren die Nase voll hatte, hielt ich auf dem erstbesten Parkplatz und lief auf einem Wanderweg in den Wald hinein.
Der Regen hörte auf. Nach einem knappen Kilometer verließ ich den Wanderweg und folgte einem Trampelpfad bergab. Rechts und links vom Weg sprossen Pilze aus dem Boden. Ich begegnete keiner Menschenseele, bis ich nach zehn oder fünfzehn Minuten eine Frauenstimme leise auf Spanisch singen hörte. Kurz darauf stieß ich auf eine Lichtung mit zehn oder zwölf Menschen, die Hälfte davon Ureinwohner Südamerikas – ich tippte auf Peru, auch wenn ich kein Geld darauf gewettet hätte. Die meisten lagen nur so herum, nur zwei von ihnen, eine winzige Indianerin und eine große Weiße, standen aufrecht.
Die Indianerin sang. Die Weiße sagte: »Sobald die Medizin ihre Wirkung entfaltet, ziehen vor deinen Augen möglicherweise Visionen auf. Sie mögen dir real erscheinen oder nicht. Versuche dir einzuprägen, was du siehst. Keine zwei Menschen sehen dasselbe. Es sind ganz persönliche Botschaften des Lianengeistes an dich.«
Ich stieg bergan. Auf der Kuppe entschied ich mich für einen anderen, noch schmaleren Trampelpfad. Nach einer halben Stunde hatte ich die Rückseite des Hügels erreicht. Niemand war in der Nähe, zumindest nicht in Sichtweite.
Mich im Wald zu orientieren fiel mir nicht leicht. Ich hatte den überwiegenden Teil meines Lebens in der Stadt verbracht, und in meinen ungeübten Augen sahen alle Bäume gleich aus. Aber nach ein paar falschen Abzweigungen fand ich die Stelle, die ich gesucht hatte, einen gigantischen, schwarz verkohlten Baumstumpf, der von einem Kreis aus Mammutbäumen umstanden war. Wenn ein Mammutbaum
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