Das Ende der Welt
immer leer? Oder fehlt noch eine Gitarre?«
Lydia wirkte verwirrt.
»Du meine Güte«, sagte sie, »das weiß ich doch nicht.«
Ich hakte nicht nach. Ihr Erinnerungsvermögen war noch nie das beste gewesen, und während sie versuchte, nach vorn zu blicken und sich mit Pauls Tod abzufinden, verschwamm die Vergangenheit zusehends.
Als wir das Haus erreicht hatten, lud sie mich abermals ein.
»Möchtest du einen Tee?«, fragte sie. »Bevor du dich auf den Heimweg machst.«
Sie wollte auf keinen Fall alleine sein, das sah ich, aber ich hatte noch viel zu tun. Zum Beispiel nach Hause fahren und den Geruch des Todes abwaschen. Am Ende war ich nicht besser als alle anderen.
Ich verabschiedete mich von Lydia, nahm aber nicht sofort den Highway 101 in die Stadt. Stattdessen bog ich auf den Interstate 580 ab und fuhr nach Oakland. Dort verließ ich die Hauptstraße, fuhr in den Wald und stellte mein Auto auf dem ersten Parkplatz ab.
Die Nadeln der Mammutbäume bedeckten den Boden und gaben bei jedem Schritt einen intensiven Duft ab. Ich erklomm den Berg und stieg auf der anderen Seite wieder ab. Ich verließ den Wanderweg und folgte einem Trampelpfad tief in den Wald hinein. Fichten und Eichen und dann wieder Mammutbäume. Ich lief bergab, was mir leichter fiel. Weicher Sauerklee und Farne und Orchideen und Pilze federten meine Schritte ab.
Ich irrte für eine Weile im Wald herum, konnte den Roten Detektiv aber nicht finden. Vielleicht war er umgezogen, oder vielleicht hatte ich mich verlaufen. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu fahren. Ich lief zum Auto zurück und fuhr zu einer Bar in Oakland. Ein Mann lud mich auf einen Drink ein. Ich akzeptierte, und dann begleitete ich ihn nach Hause. Er roch nach Lavendelseife. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er verschwunden. Ich kochte mir einen Tee, durchwühlte seinen Medizinschrank, nahm an mich, was ich gebrauchen konnte, und ging.
[home]
35
V ierundsiebzig Tage nach Pauls Tod fing ich noch einmal von vorn an. Ich rief Claude an und bat ihn, vorbeizukommen. Wir setzten uns ins Wohnzimmer. Ich besaß zwei große, rote, dick aufgepolsterte Sofas, die ich vor dem Haus einer reichen Familie in Pacific Heights gefunden hatte, die sich neue Möbel angeschafft hatte. Oder möglicherweise war die Familie am Umziehen. Die Geschichte von den neuen Möbeln klang irgendwie besser.
Claude saß auf dem einen Sofa, ich auf dem anderen. Ich erteilte ihm neue Anweisungen. Wir hatten drei potenziell weiterführende Spuren: den Pokerchip, die verschwundene Gitarre und Pauls gestohlene Schlüssel. Claude würde weiterhin versuchen, die Herkunft des Pokerchips zu klären, und darüber hinaus würde er Pauls Kreditkartenabrechnungen, eBay-Verkäufe, Fotos und alle anderen Unterlagen unter die Lupe nehmen, um die verschollene Gitarre zu identifizieren. Was die Schlüssel betraf, so konnten wir nur abwarten.
Als Claude gegangen war, rief ich Lydias Freundin Carolyn an, die am Tag nach Pauls Tod auf die Polizeiwache gekommen war. Wir trafen uns in einem Café in der Solano Avenue in Albany. Carolyn wohnte ganz in der Nähe, in El Cerrito. Ich befragte sie so, wie man es aus dem Fernsehen kennt: Hatte Paul Feinde? Nein. Nahm er Drogen? Wollte irgendjemand ihn aus dem Weg schaffen? Nein, davon wusste sie nichts. Schrecklich.
Nachdem ich mich aufgewärmt hatte, ging ich zum Hauptprogramm über.
»Gab es zwischen Lydia und Paul«, fragte ich, »irgendwelche Probleme? Ich weiß, sie waren ein wunderschönes Paar. Ich frage mich bloß, ob es möglicherweise Streitpunkte gab? Was auch immer. Du weißt schon, das übliche Zeug.«
Carolyn verzog das Gesicht. »Ehrlich gesagt gab es da so einiges, was nicht gut lief. Sie steckten gerade mitten in einer Krise.«
»Wirklich?«, fragte ich. »Warum?«
»Ehrlich gesagt«, sagte sie noch einmal, »ging es schon eine ganze Weile so. Die ersten beiden Jahre waren wirklich gut. Der Anfang. Und dann … du weißt ja, wie das ist. Es gab ständig Streit. Wegen irgendwelchem Mist. Eifersucht.«
»Warum haben sie sich nicht getrennt?«, fragte ich mit einem besorgten Stirnrunzeln.
»Weil sie sich geliebt haben«, sagte Carolyn. »Sie wollten es versuchen.«
»Wie denn?«
Etwas huschte über Carolyns Gesicht. Sie schien mit sich zu ringen.
»Na ja«, sagte sie zögerlich, »wenn ich es dir anvertraue … dann ist es so, als würde ich mit einem Arzt sprechen, oder?«
»Genau«, sagte ich.
»Also dann«, sagte Carolyn. Sie tat so, als fiele
Weitere Kostenlose Bücher