Das Ende der Welt
günstig erstanden hatte. Falls er über ein eigenes Vermögen verfügte, hatte er den Umstand erfolgreich vor mir verborgen.
Einen Termin zu vereinbaren war sinnlos, da er sich grundsätzlich nicht an Verabredungen hielt. Also klingelten wir unangemeldet an seiner Tür, um zwei Uhr an einem Freitagnachmittag. Ich hatte mehrere hundert Dollar in bar dabei und eine Pappschachtel. In der Schachtel befand sich eine Torte.
Man konnte nie wissen, wonach es dem Pokerchipmann gelüstete. Man konnte es nicht wissen, man konnte nur raten.
»Was machen wir, wenn er nicht zu Hause ist?«, fragte Claude.
»Dann kommen wir wieder«, sagte ich. »Bis wir ihn irgendwann antreffen.«
Nichts tat sich. Ich klingelte noch einmal. Und noch einmal. Beim fünften Mal krächzte es aus der Gegensprechanlage: »Was?«
»Ich habe eine Torte«, sagte ich. »Kokos-Sahne.«
Claude sah mich fragend an. Ich zuckte die Achseln. Vielleicht würde es funktionieren.
»Ach, Sie sind es«, sagte der Pokerchipmann enttäuscht, nachdem er uns die Tür geöffnet hatte. »Ich dachte …«
»Ich habe eine Torte«, beruhigte ich ihn.
Er zog eine Augenbraue hoch. Wir waren im Geschäft.
Der Pokerchipmann war zwischen fünfzig und siebzig Jahre alt, weiß und mindestens eins achtzig groß. Er trug ein abgewetztes Tweedsakko, eine Hose und Wildlederschuhe und sah ein bisschen so aus wie Vincent Price. Zudem neigte er zu diesen für Price typischen, übertriebenen Grimassen, was den Eindruck noch verstärkte. Begegnete man ihm auf der Straße, hätte man ihn glatt für einen Englischprofessor aus Berkeley halten können oder für einen Trinker, der früher einmal Professor gewesen war. Dabei war er keines von beidem. An einer Schnur um seinen Hals baumelte eine Lupe.
Die Wohnung war riesig: drei Schlafzimmer, ein Esszimmer, ein Wohnzimmer, ein völlig unnötiges, keinem bestimmten Zweck gewidmetes reines Luxuszimmer, zwei Badezimmer, eine große Wohnküche. An den meisten Wänden standen Bücherregale. Die Bücher stapelten sich bis zur Decke und belegten jede verfügbare Ablagefläche. Seit zehn Jahren suchte ich den Pokerchipmann regelmäßig auf, und der Raum zwischen den Stapeln verringerte sich von Jahr zu Jahr. Im nächsten wäre nichts mehr übrig als schmale Pfade. Man fragt sich ja immer, wie es dazu kommt, dass manche Menschen so hausen, und es war hochinteressant, den Prozess live mitzuerleben.
Außer dem Mann wohnten hier noch Pokerchips. Die meisten lagerten in Glasbehältern verschiedener Größe und Machart, in Großhandelsgurkengläsern, Erdnussbuttergläsern, in Blechbüchsen und so weiter. Manche Pokerchips lagerten in Kaffeedosen, andere in Plastik- und Papiertüten, wiederum andere lagen lose herum. Tausende davon.
Zuerst aß der Mann die Torte. Er fischte eine Gabel aus der Spüle, setzte sich an den Küchentisch und schob ein paar Pokerchipgläser beiseite. Er klappte die Schachtel auf und sah mich an, als erwarte er eine Antwort.
»Haus der Torten«, erklärte ich, »Albany.«
Der Mann betrachtete die Torte. Er kostete einen Bissen, kaute langsam und wirkte ganz zufrieden.
Er aß die Torte. Das ganze Ding. Claude schaute gleichermaßen entsetzt und gebannt zu. Dem Pokerchipmann war es egal. Er brauchte etwa eine halbe Stunde, vielleicht ein bisschen weniger. Ich setzte mich in einem der Pfade zwischen den Bücherstapeln auf den Boden, las E-Mails auf meinem Smartphone und blätterte in einer Ausgabe des
Pokerchip-Kenners.
Ich war gerade in den Nachruf auf einen Mann vertieft, der die Chips für das Sahara und Caesars Palace entworfen hatte (Geoffrey van der Crook, geboren in Indianapolis; er hinterließ eine Tochter, die sich jedoch weigerte, das Erbe anzutreten, und stattdessen als Sportchirurgin Karriere machte), als ich Claudes Stimme hörte.
»Äh, Claire«, sagte er, »Claire, ich glaube …«
Ich hob den Kopf. Der Pokerchipmann hatte die Torte aufgegessen und streckte nun die Hand aus. Ich kam an den Tisch und setzte mich neben Claude.
»Gib ihm das Ding«, sagte ich zu Claude.
Claude kramte den Pokerchip aus seiner Hosentasche und legte ihn dem Pokerchipmann in die Hand. Der Mann betrachtete den Chip kurz, bevor er die Finger darum schloss und die Augen zukniff. Er öffnete die Augen wieder und untersuchte den Chip unter der Lupe. Er roch daran, wieder und wieder und noch einmal.
»Menthol«, sagte er schließlich ein wenig herablassend, so als wäre es offensichtlich. »Keine Zeichen von Ausbleichung«, fuhr
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