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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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rauchiger Duft.
    »Komm rein«, sagte sie. »Ich freue mich, dass du gekommen bist.«
    Ich konnte nicht sagen, ob sie sich wirklich freute. Ihr Mund war zu einem bitteren Lächeln verkniffen.
    »Paul hat gesagt«, erzählte Lydia, während sie mir das Haus zeigte, »dass man früher, wenn sie im Sommer herkamen und der Wind günstig stand, die Musik aus dem Bohemian Grove hören konnte. Du wärst überrascht, wer da alles Mitglied ist. Diese ganzen Althippies wie Steve Miller und Jimmy Buffett.«
    Das Haus stand auf einer Lichtung auf einem etwa drei Morgen großen Waldstück. Es handelte sich um einen Bungalow im Craftsman-Stil aus den dreißiger Jahren mit Bruchsteinsockel und Holzverkleidung, sichtbaren Dachsparren und breiter Veranda. Der gemauerte Schornstein verlieh ihm das Aussehen eines Hexenhäuschens.
    »Paul hat gesagt, er und Emily hätten ein paarmal versucht, sich durch den Wald hinzuschleichen. Aber sie wurden jedes Mal von Männern in Anzügen abgefangen und zur Grundstücksgrenze zurückeskortiert.«
    Lydia runzelte die Stirn. Sie war über Emily im Bilde.
    »Wie dem auch sei«, sagte sie, »danke für deinen Besuch.«
    »Ja«, sagte ich, »wir machen es uns nett.«
    Aber etwas in mir hatte sich abgewendet. Ich hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund und war mir plötzlich gar nicht mehr sicher.
     
    Es war schon spät. Wir beschlossen, essen zu gehen. Wir fuhren zu einem eher schicken Lokal in Guerneville, wo man Lydia kannte. Lydia erzählte mir von ihren Bemühungen, Pauls Verträge auf ihren Namen umschreiben zu lassen. Sie wirkte abwesend und ein bisschen neben der Spur – ich wusste nicht genau, ob sie mit mir redete oder einfach mit der Person, die ihr zufällig gegenübersaß.
    »Es ist, als wäre noch niemals jemand gestorben«, erzählte sie. »Man ruft bei der Telefongesellschaft oder beim Gaswerk an und hat den Eindruck, die trifft der Tod eines Kunden völlig unvorbereitet. Als käme das nicht auf jeden irgendwann zu.«
    Weil ich weniger getrunken hatte als Lydia, fuhr ich den Wagen zum Bohemian Highway zurück. Lydia musterte mich.
    »Willst du noch reinkommen?«, fragte sie. »Einen Film anschauen oder so. Möchtest du hier übernachten?«
    Ich beobachtete sie im dunkelblauen Licht. Sie wirkte einsam, fast schon verzweifelt. Das Alleinsein musste hart sein, wenn man es nicht gewohnt war.
    »Klar«, sagte ich, »gerne doch.«
    Wir hatten die Auffahrt fast erreicht, als plötzlich etwas vor dem Auto auftauchte. Ich stieg auf die Bremse.
    Vor uns hockte ein riesiger, schwarzer Geier auf der Straße. Im weißen Scheinwerferlicht hob er sich grell von der Fahrbahn ab. Ich sah mich um. Rechts von der Straße saßen fünf weitere Geier, wahrscheinlich die Familie, auf einem toten Reh. Sicher war es überfahren worden; es lag auf der Seite und starrte mit glasigen Augen und offenem Maul in Richtung Straße. Die Geier waren mit dem weichen Bauch beschäftigt, der knochige Schädel und die dünnen Beine interessierten sie nicht.
    Lydia starrte aus dem Seitenfenster, als sähe sie ein Gespenst. Sie wurde bleich, und ihre Lippen formten ein kreisrundes O.
    »Oh«, sagte sie, »oh, ich …«
    Ich betrachtete sie im Rückspiegel. Sie hatte mir ihr Gesicht zugewandt, aber ihr Blick ging in die entgegengesetzte Richtung zum Fenster. Der Mund war leicht geöffnet und die Augenbrauen zusammengezogen.
    Auf einmal sprang der Geier auf die Motorhaube. Seine Krallen zerkratzten den Lack. Sein Gesicht war rot und runzlig, hässlich und böse. Er blieb für einen Augenblick auf der Motorhaube sitzen und spreizte die Flügel, so weit es ging.
    Dann hüpfte er los, als wolle er abheben, stürzte aber auf die Windschutzscheibe, die in ihrer Fassung vibrierte.
    Lydia fing zu schreien an.
    Der Vogel torkelte hin und her und zog erschreckt die Flügel ein. Er stolperte, spreizte sie ein weiteres Mal. Ein Flügel schlug gegen die Windschutzscheibe und hinterließ eine lange Blutspur. Der Vogel zischte und knurrte, ein unheimlicher Ton, der aus tiefster Kehle kam.
    Lydia starrte ihn gebannt an.
    »O Gott«, sagte sie. Sie klang, als würde sie jeden Moment zu weinen anfangen.
    Der Geier versuchte immer wieder, seine Flügel auszustrecken. Er rührte sich nicht von der Stelle.
    »Bitte«, flüsterte Lydia mit zitternder Stimme, »bitte.«
    Ich sah sie an. Sie war zu Tode erschreckt, am Boden zerstört.
    Der Geier hockte auf der Motorhaube und zupfte an seinem verletzten Flügel. Ich tippte vorsichtig auf die

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