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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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er fort. »Dieser Chip hat nie das Tageslicht gesehen. Schauen Sie mal«, sagte er und zeigte mir etwas, das ich nicht sehen konnte. »Eine Einkerbung von einem Fingernagel. Das passiert, wenn die Leute sehr nervös sind. Diese Kerbe ist besonders tief.«
    »Also war die Person entweder sehr gesund oder …«
    Er fiel mir ins Wort. Wir trugen dick auf, um Claude zu beeindrucken. »… trug Kunstfingernägel«, sagte er hastig. »Was tausendmal wahrscheinlicher ist.«
    »Das weiß ich selbst«, gab ich schnippisch zurück.
    Der Mann leckte den Pokerchip an. Er verzog das Gesicht: gar nicht so übel. Ich streckte die Hand aus. Er legte den Chip hinein, und ich tat es ihm gleich.
    »Nett«, sagte ich. »Kokain«, erklärte ich Claude, »und Kakaobutter.«
    »Und«, fügte der Mann hinzu, »ein Hauch von Florida Water.«
    Die Wahrscheinlichkeit, dass ein afroamerikanischer Raucher zur Mentholzigarette griff, war um siebzig Prozent höher als bei einem Weißen. Kokain war die Droge der Weißen, Kakaobutter und Florida Water wiederum wurden fast ausschließlich von Afroamerikanerinnen und Latinas benutzt. In Oakland lag der afroamerikanische Bevölkerungsanteil höher als irgendwo sonst in der Bay Area. Er war fast doppelt so hoch wie in San Francisco.
    »Dann also Oakland?«, fragte ich.
    Der Mann zog eine Augenbraue hoch: vielleicht. Er überlegte.
    »Und Sie sind sicher, dass der Chip aus der Gegend hier stammt?«, fragte er.
    »Nein«, sagte ich, »nichts ist sicher. Aber zu hoffen wäre es.«
    Der Mann nickte und schloss wieder die Augen. Seine Lippen bewegten sich stumm, seine Augäpfel rollten unter den Lidern hin und her. Er murmelte leise, stieß Silben aus, die wie Sprache klangen, aber keine waren: goar, goar, skorp, pista, pista. Sein Murmeln wurde lauter und wortförmiger:
Nein, nein, nein. Ja, ja, ja.
Nach fünf oder sechs Minuten fing er schließlich zu sprechen an.
    »Der Fan Club«, sagte er, die Augen geschlossen, das Gesicht immer noch in Verzückung. Für den Bruchteil einer Sekunde war er schön. »Downtown Oakland. 5 . März 2010 , Blackjack.«
    Er öffnete die Augen, starrte zur Zimmerdecke, war nicht mehr schön.
    »Ein verlorenes Spiel«, sagte er. Er senkte den Blick und sah Claude ins Gesicht. »Setze nie auf die Siebzehn.«
    »Ja«, sagte Claude erschreckt, »ich werde es mir merken.«
    Ich stand auf. Claude blickte verunsichert zwischen mir und dem Mann hin und her. Ich nahm dem Mann den Chip aus der Hand und legte stattdessen einen Hundertdollarschein hinein.
    »War mir ein Vergnügen«, sagte ich.
    Der Mann schwieg. Sein Gesicht hatte wieder den üblichen mürrischen Ausdruck angenommen. Ich wusste, er bereute, die ganze Torte auf einmal aufgegessen zu haben.
    »Nächstes Mal«, sagte ich, »bringe ich zwei mit.«
    Er nickte. Abgemacht.

[home]
    37
    Brooklyn
    M it dem Auto hätten wir von mir bis zur Kreuzung Broadway und Kent sieben oder acht Minuten gebraucht. Zu Fuß dreißig bis vierzig. Mit der U-Bahn brauchten wir fünfundvierzig. Wir standen auf, stellten uns an die Tür und schauten zu, wie der Zug in den Bahnhof kroch.
    »Als würden wir angeschoben«, bemerkte Tracy. »Als stünde hinter dem Zug ein Mann, der uns in den Bahnhof schiebt.«
    »Außer, dass er eingeschlafen ist«, sagte ich. »Und seine kleine Tochter jetzt ganz allein schiebt.«
    »Aber die ist gestorben«, sagte Kelly, »und jetzt schiebt nur noch ihr Geist.«
    »Und der schiebt nicht«, sagte ich, »der pustet. Er pustet einen sanften, erfrischenden Lufthauch von hinten gegen den Zug.«
    Irgendwann blieb die Bahn mit einem metallischen Rums stehen.
    Wir mussten noch eine Viertelstunde laufen. Als wir unser Ziel erreicht hatten, waren wir durchgefroren und frustriert.
    »Ich hasse den verdammten Winter«, sagte Tracy.
    »Ich auch«, sagte ich. »Und ich hasse diese verdammte Stadt.«
    »Ich auch. Ich würde am liebsten in Kalifornien wohnen.«
    »Und ich in Florida.«
    »Las Vegas!«
    »Arizona. Ist es da warm?«
    »Ich glaube schon. Ich glaube, da ist Wüste.«
    Schließlich erreichten wir ein riesiges, altes Fabrikgebäude, das einen gesamten Block einnahm. Der Haupteingang war nicht verschlossen, und wir betraten die düstere, menschenleere Lobby. Aus einem angrenzenden Raum drang Lärm, das Schrammeln von Gitarren. Dorthin führte eine riesige Schiebetür, die durch ein Gewicht an einer Kette bewegt wurde. Wir zogen mit vereinten Kräften, und die Tür gab langsam und quietschend nach.
    Dahinter lag eine

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