Das Ende der Welt
es ihr schwer, dabei genoss sie es, mir davon zu erzählen. Sie genoss es, das Ganze auszubreiten und weiterzutragen. Ich konnte es ihr nicht verübeln. »Paul hatte eine andere kennengelernt. Ich weiß nicht, wer sie war. Es war nichts Ernstes, aber ernst genug, würde ich sagen. Und dann hat er mit der Frau Schluss gemacht, um es noch einmal mit Lydia zu versuchen.«
Ich nickte, lächelte in geheucheltem Verständnis, blickte besorgt drein. Die Situation war heikel, und ich wollte keinen Fehler machen. Außerdem tat ich ja so, als sei ich so was Ähnliches wie eine Ärztin.
»Seit wann ging das?«, fragte ich.
»Ach herrje.« Carolyn schnitt eine Grimasse. »Lydia hatte angefangen. Sie hat ihn betrogen. Mit einem Typen. Paul fand es heraus, und danach war alles anders. Sie gaben sich keine Mühe mehr. Und dann hatte Paul erst eine Affäre, nichts Ernstes, glaube ich, und dann die zweite.«
»Zwei?«
»Von mehr weiß ich nicht«, sagte sie.
»Und Lydia?«, fragte ich.
Carolyn zuckte die Achseln. »Ich habe ihr Fremdgehen nie gutheißen können«, sagte sie. »Deswegen haben wir nach ihrem ersten Seitensprung nicht mehr darüber geredet. Ich kann so was nicht auch noch unterstützen. Ich meine, wenn man eine offene Beziehung führen möchte, ist das eine Sache, aber das Lügen und Verheimlichen – so was ist nichts für mich. Ich finde das falsch. Paul war sicher nicht perfekt, aber er war ein netter Kerl. Ich weiß nicht, ob da noch mehr Männer im Spiel waren. Sie hat mir nur von dem ersten erzählt.«
»Wer war er?«
»Er hieß Eric. Er ist Filmvorführer in diesem Horrorkino in Castro.«
Ich nickte. Ich kannte ihn.
»Das ist alles so traurig«, sagte Carolyn. »Sie hätten miteinander so glücklich werden können. Sie hätten ein tolles Leben führen können. Ich meine, irgendwie sind wir doch alle auf der Suche nach der großen Liebe, oder? Ich weiß nicht, aber … Es kam mir so vor, als hätten sie irgendwo die falsche Abzweigung genommen, und von da an … Ich weiß auch nicht. Ich weiß nicht, was ich da rede. Jetzt klingt es viel schlimmer, als es war.«
»Aber?«, fragte ich.
Sie runzelte die Stirn. »Mit Lydia ist es so … ich meine, sie ist meine beste Freundin, und ich liebe sie und alles. Aber …«
Wieder schnitt sie eine Grimasse.
»Aber?«, fragte ich.
»Aber da hat sie –
hatte
sie – diesen tollen Ehemann, eine richtige Karriere, ein Haus, alles. Und trotzdem war es nie genug. Das, was andere zufriedenstellt, reicht bei Lydia einfach nicht aus. Nie. Und irgendwann fragt man sich, ob sie überhaupt jemals zufrieden sein kann.«
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36
A ls ich am Nachmittag nach Hause kam, war Claude da. Was nicht verwunderlich war, immerhin arbeitete er oft bei mir. Er saß am großen Holztisch und brütete über einem dicken Buch.
Pokerchips – Das Sammlerlexikon.
Er sah traurig aus.
»Der Pokerchip«, sagte ich.
Er sah noch trauriger aus. Ich hatte ihm Zeit geben wollen, um selbst draufzukommen, aber irgendwie funktionierte es nicht.
»Es geht nicht«, sagte er, »ich bin …«
»Okay«, sagte ich. »Hast du nach der Herstellerkennung gesucht?«
»Die habe ich gefunden«, sagte er, »und ich habe sie nachgeschlagen. Ace Novelty, Tennessee.«
»Prima«, sagte ich, »gut gemacht!«
Claude runzelte die Stirn. »Nein«, sagte er, »überhaupt nicht. Weiter bin ich nicht gekommen.«
»Nun ja, Ace ist Marktführer«, sagte ich. »Wen beliefern sie?«
»Jeden«, sagte Claude resigniert. »Außerdem gibt es einen Onlineshop. So ziemlich jeder hätte diesen Chip kaufen können.«
»Ich verstehe«, sagte ich.
»Und jetzt?«, fragte Claude.
Ich seufzte. »Wir fragen den Pokerchipmann«, sagte ich. »Und du, Junge, kommst mit.«
Claude lachte nervös. »Das klingt wie eine Drohung.«
»Ja«, sagte ich, »stimmt.«
Claude wirkte besorgt.
»Lydia und Paul waren untreu«, sagte ich.
Claude runzelte die Stirn. Er redete nicht oft über sein Privatleben, aber ich hatte den Eindruck, dass er auf den Gebieten Liebe und Sex bislang kaum Erfahrungen gesammelt hatte.
»Und was heißt das für uns?«, fragte er.
»Es heißt …«, sagte ich. Ich musste nachdenken. »Es heißt«, sagte ich schließlich, »dass viele Menschen verletzt wurden. Und dass es unter Umständen mehr Verdächtige gibt, als wir zunächst dachten.«
Der Pokerchipmann lebte an der beinahe höchsten Stelle von Russian Hill in einer riesigen Wohnung, die sein Großvater angeblich während der Depression
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