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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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Hupe.
    Der Geier warf mir einen bösen Blick zu, hopste im gleißend hellen Scheinwerferlicht von der Motorhaube und landete strauchelnd auf dem Asphalt. Er zischte und grunzte und schleppte sich flatternd an den Straßenrand. Sobald er den Lichtkegel der Autoscheinwerfer verlassen hatte, wurde er unsichtbar.
    Ich fuhr weiter.
    Auf der Fahrt zum Haus starrte Lydia geradeaus. Ich parkte den Wagen. Sie stieg aus und verschwand wortlos im Haus. Sie schloss sich im Schlafzimmer ein. Nach ein paar Minuten hörte ich, wie im Bad daneben das Wasser aufgedreht wurde.
    Nach einer Weile kam Lydia mit nassen Haaren und eingewickelt in einen zu großen, weißen Bademantel aus dem Schlafzimmer. Ihr Lächeln war das einer kleinen, erschöpften Witwe.
    »Sorry«, sagte sie. »Das hat mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
    »Ja, klar«, sagte ich, »kein Problem. Das war echt unheimlich.«
    »Ja«, sagte sie. »Hat es was zu bedeuten? Ist es nicht so, dass es etwas zu bedeuten hat, wenn man einen bestimmten Vogel sieht? Bei den Indianern zum Beispiel?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich. »Vielleicht.« Aber ich wusste, dass es so war, nicht nur bei den Indianern.
    Lydia runzelte die Stirn und versuchte, das Erlebnis abzuschütteln. Es gab einen Schrank voller DVDs. Sie entkorkte eine Flasche Wein und legte
Born to Kill
ein. Ich dachte mir, dass alle ihre Abende so aussahen, egal, ob sie Besuch hatte oder allein war: ein alter Film, dazu eine Flasche Wein. Blass und klein kuschelte sie sich neben mir aufs Sofa. Mitten im Film schlief sie ein. Im Schlaf stöhnte und zuckte sie und schlug um sich, so wie in der Nacht von Pauls Tod. Sie murmelte und stieß grunzende und quiekende Laute aus.
    Nach Mitternacht stupste ich sie vorsichtig an. Sie wirkte benommen, als hätte sie Tabletten genommen. Sie zeigte mir das Gästezimmer, und ich legte mich ins Bett. Wenn Lydia es mir nicht gesagt hätte, wäre ich niemals darauf gekommen, dass es sich um Pauls altes Kinderzimmer handelte. Als Paul und Emily klein gewesen waren, war die Familie oft hergekommen, mindestens viermal im Jahr. In den achtziger Jahren, Paul und Emily waren im Teenageralter, starb der Vater. Die Mutter brach alle Zelte ab und siedelte mit den Kindern an die Ostküste über, um in der Nähe ihrer eigenen Familie zu sein. Ein paar Jahre später kehrte Paul zum Studieren nach Kalifornien zurück und blieb für immer dort. Er ließ das Haus renovieren, die Kinderzimmer wurden ausgeräumt und zu Gästezimmern umgebaut. Wenn er am Wochenende herkam, egal ob mit Lydia oder anderen Gästen, belegte er das Elternschlafzimmer. Schließlich war er jetzt der Herr im Haus.
    Am Vortag hatte Josh mich angerufen und mir angeboten, seine Freundin kennenzulernen, diejenige, die mit Paul zusammen gewesen war. Ich wollte sie treffen, aber nicht so kurz vor meiner Verabredung mit Lydia. Mit der Tatsache, dass Paul untreu gewesen war, kam ich ganz gut zurecht. Ich war immer noch der Überzeugung, dass Lydia ohnehin Bescheid wusste. Falls sie mich danach fragte, würde ich die Wahrheit sagen; ich würde das Thema jedoch nicht selbst ansprechen.
    Aber die Frau zu treffen wäre etwas anderes. Ich bat Josh, die Verabredung auf die kommende Woche zu legen. Wir waren am Mittwoch um vier Uhr nachmittags in einem Coffee Shop in Berkeley verabredet.
    Ich lag wach und musste an die Frau denken. An die Frau, mit der Paul geschlafen hatte. Mit der er eine Affäre gehabt oder unangemessen viel Zeit verbracht oder sonst was getan hatte. Man konnte auf ebenso unterschiedliche Art betrügen, wie man eine Ehe führen konnte.
    Ich konnte nicht einschlafen. Ich bildete mir ein zu wissen, mit wem Paul untreu gewesen war. Einmal hatte ich ihn nach einem Konzert mit einer Frau gesehen. So etwas merkt man einfach. Ich musste immer wieder an Paul und diese Frau denken. Eine andere Band hatte gespielt – Lydias Band? Nein, die eines Freundes von Paul. Josh? Nein, nicht Josh. Ich konnte mich nicht erinnern. Es war in der Swiss Music Hall gewesen. Das Mädchen hatte ein weißes Vintage-Kleid aus den Sixties mit U-Boot-Ausschnitt, weitem Petticoat und schmaler Taille getragen. Wer hatte gespielt? Ich erinnerte mich an eine Snare Drum und einen Kontrabass. Das Mädchen mit dem weißen Kleid tanzte allein, ihr Rock drehte sich wie bei einem Derwisch. Auf ihren linken Unterschenkel war ein Baum tätowiert, auf ihre Arme Vögel. Sie hatte kurzes, weißblondes Haar, fast so wie ich. Ich war nicht allein gekommen. Auf

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