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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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mich zu sehen, und lächelte verwundert. Ich sagte:
Wie geht’s?,
und er gab mir einen Kuss und sagte:
Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Ich dachte, ich sehe dich nie wieder.
    In meinem Traum nahm er das Messer – unschlüssig, glücklich, stolz, mit demselben Lächeln im Gesicht.
    Bitte sehr,
sagte ich.
Ich vertraue dir.
    Was ich im echten Leben nie gesagt hatte, weder zu ihm noch zu irgendwem sonst.

[home]
    47
    A m nächsten Tag fuhr ich nach Santa Cruz. Der Highway 880 ging in den gewundenen, steilen Highway 17 über, während sich vom Meer her der Nebel übers Land schob. In Scott’s Valley verließ ich die Schnellstraße und fuhr in die Berge hinauf. Ich hatte ausgeschlafen und keine Drogen genommen, aber nach der Hälfte der Strecke bekam ich plötzlich das Gefühl, jeden Moment einzuschlafen oder ohnmächtig zu werden, deswegen nahm ich eine winzige Prise. Und dann noch eine und noch eine. Ich fühlte mich nicht berauscht, nur nicht mehr ganz so tot.
    Der Nebel wurde immer dichter, und es sah nach Regen aus. Als ich aber den Berggipfel erreicht hatte, strahlte der Himmel in einem klaren Blau. Plötzlich schien die Erinnerung an den Nebel ganz weit weg.
    Ich parkte vor dem Tor des Dorje-Tempels und drückte auf die Klingel.
    Eine Frauenstimme mit schwerem bhutanischem Akzent fragte durch die Sprechanlage: »Wer ist da?«
    Pech gehabt.
    »Claire DeWitt«, sagte ich. »Ich möchte den Lama besuchen.«
    »O nein!«, rief die Frau. »Sie sollten nicht herkommen.«
    »Ich bin aber hier.«
    »Bitte, gehen Sie einfach«, bat die Frau. »Lassen Sie uns in Ruhe.«
    Im selben Moment sah ich den Lama in Begleitung zweier Jungen den Weg herunterkommen.
    »Hey!«, rief ich. »Hey!«
    Er hob den Kopf und blinzelte.
    »Claire DeWitt«, sagte er lächelnd. Dann bemerkte er, dass ich draußen vor dem Tor stand. Er schickte die Jungen in den Garten zurück, trat ans Tor und redete in die Sprechanlage.
    »Ist schon gut«, sagte er zu der Frau. »Sie darf reinkommen. Ich behalte sie im Auge.«
    Stille. Das Tor summte und sprang auf.
    »Sie können unter den Obstbäumen parken«, sagte der Lama. »Ich warte im Garten auf Sie.«
     
    Ich parkte neben einem Apfelbaum und lief in den Garten. Der Tempel an sich war wenig beeindruckend, aber das Grundstück war riesengroß, und die billigen, schnell zusammengezimmerten Unterkünfte schienen kein Ende zu nehmen. Um die Fertighäuser herum standen Wohnwagen, Jurten und Zelte.
    Ich lief in den Garten. Der Lama schaute einer jungen Frau, etwa einundzwanzig Jahre alt, dabei zu, wie sie einer Gruppe von Teenagern beibrachte, ein Hochbeet anzulegen.
    »Die Würmer sind eure Freunde!«, sagte sie. »Die Pilze sind eure Verbündeten!«
    Die Teenager, die das Beet bauen sollten, vielleicht zehn an der Zahl, waren verdreckt und stanken. Einige trugen Lumpen und selbstgestochene Tattoos auf den Handrücken und Unterarmen, manche sogar im Gesicht. Sie alle taten, wozu die Lehrerin sie aufforderte, wühlten mit kleinen Spaten in der Erde und hielten nach Würmern und Pilzen Ausschau. Ein Mädchen hörte nicht zu plappern auf, arbeitete währenddessen aber fleißig weiter.
    Der Lama bemerkte mich und ging mir entgegen.
    »Claire«, sagte er, »mein größter Reinfall!«
    »Sie können es mir nicht oft genug sagen, was?«, sagte ich.
    Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ganz ehrlich? Nein. Ich liebe den Spruch. Es fühlt sich gut an, ihn auszusprechen. Dann fühle ich mich irgendwie besser. Tee?«
    »Klar«, sagte ich.
    Wir gingen zum Haupthaus. Am Eingang trafen wir Jenny.
    Sie warf dem Lama einen vorwurfsvollen Blick zu.
    »Jenny«, sagte er, »du hast das Gedächtnis eines Elefanten. Die Menschen ändern sich!«
    »Sie nicht«, sagte Jenny in ihrem schweren Akzent, »sie bleibt immer gleich.«
    Ich zuckte die Achseln. Vermutlich hatte Jenny recht.
    »Du lieber Himmel, das reicht!«, sagte der Lama. »Claire, würden Sie sich bitte bei Jenny entschuldigen, was immer Sie ihr auch angetan haben?«
    »Nein«, sagte ich.
    Jenny verzog das Gesicht.
    »Jenny?«, sagte der Lama.
    Jenny schnaubte.
    Jenny war eine strenggläubige Buddhistin. In jüngeren Jahren hatte sie als Anwältin für Menschenrechte gearbeitet, Spezialgebiet Kinderschutz. Vor fünfzehn Jahren, kurz nach der Gründung des Klosters durch den Lama, war sie nach Kalifornien gekommen. Sie kümmerte sich rührend um die Männer, Frauen und Kinder, die hier lebten.
    Bei meinem ersten Aufenthalt im Dorje-Tempel hatte sie mich im

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