Das Ende der Welt
starrte geradeaus. Tracy ließ ihn nicht aus den Augen. Er fing an, sich sichtlich unwohl zu fühlen.
Auf einmal sprach Tracy ihn an.
»Was gibt es da zu glotzen?«
Der Mann versuchte, sie zu ignorieren.
»Was?«, schrie sie. »Die hier?« Sie packte ihre Brüste.
Der Mann wurde rot und schaute zu Boden, zur Seite, geradeaus, überallhin, bloß nicht in Tracys Richtung.
»Was willst du?«, schrie sie. »Willst du das?«
An der nächsten Haltestelle warf sie mit ihrem Buch nach dem Mann. Er zuckte zusammen und duckte sich, wurde aber dennoch getroffen, dicht über dem Auge. Er nahm das Buch und warf es zurück. Es traf mich am Kopf, ohne mir weh zu tun. Die Stelle über dem Auge des Mannes fing zu bluten an. Er wirkte verletzt und verwirrt, wie ein wildes Tier, das unvermutet von einer Kugel getroffen worden war.
Die Türen öffneten sich, und der Mann stürzte hinaus.
Tracys Gesicht war rot und feucht. Sie atmete schwer. Ich dachte, sie würde zu weinen anfangen. Stattdessen drehte sie sich zu mir und sagte: »Ich hätte ihn umbringen sollen.«
»Ja«, sagte ich, »echt.«
»Ich wünschte, er wär tot.«
»Absolut«, stimmte ich zu. »Er sollte tot sein. Er kann von Glück sagen, dass er dir begegnet ist und keiner anderen.«
Sie nickte. »Er hat Glück gehabt«, sagte sie. »Er könnte tot sein.«
An dem Abend beschlossen wir, ins Hell zu gehen. Kelly wollte um acht Uhr bei mir sein, aber sie kam erst um neun, mit einem blauen Fleck an der linken Wange und schlechter Laune. Kellys Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als ihre Mutter Lorraine schwanger wurde; Lorraine zufolge war das allein Kellys Schuld, und sie wurde nicht müde, Kelly daran zu erinnern. Nun war sie der Meinung, Kelly sei im Begriff, denselben Fehler zu begehen und ihr Leben zu ruinieren, so wie sie Lorraines Leben ruiniert hatte. Die zwei hatten sich nie gut verstanden, aber Kellys Freund schien eine neue, besonders hässliche Seite von Lorraine zum Vorschein zu bringen. Lorraine war mager, aber kräftig. Wahrscheinlich hatte sie Kelly in der Zimmerflucht ihrer engen Wohnung in die Ecke getrieben. Kelly konnte gegen ihre Mutter nicht gewinnen, aber sie war jung und geschmeidig und konnte fliehen. Wofür Lorraine sie vermutlich am meisten hasste.
Kelly würde bei mir wohnen, bis Lorraine sich beruhigt hatte. Es würde nicht länger als ein paar Tage dauern. Kelly gegenüber war Lenore, die für mich keinerlei Muttergefühle hegte, ungewöhnlich einfühlsam. Lenore war von ihrem Vater geschlagen worden, aber gegen mich hatte sie, trotz all ihrer Fehler, nie die Hand erhoben. Irgendwann würde Lorraine ihre Tochter ausfindig machen und sie mit zweischneidigen Entschuldigungen überschütten:
Du weißt, wie leid es mir tut, aber … Ich hätte nicht so fest zuschlagen dürfen, aber …
Mein Zimmer war fast so groß wie Tracys Wohnung, wenn auch sechs Grad kälter, so dass wir uns meistens bei mir trafen, bevor wir ausgingen. Ich zog einen Minirock mit Pailletten an, den ich in der 14 . Straße gekauft hatte, dazu eine schwarze Strumpfhose und Motorradstiefel. Tracy trug ein schwarzes Cocktailkleid, das sie kurz unterm Po abgeschnitten hatte, und Kelly ein blaues Fifties-Kleid mit Petticoat und enger, tief ausgeschnittener Korsage.
Während wir uns fertig machten, nippte Tracy an ihrem riesigen Wodkaglas. Ich wusste nicht, was in den letzten beiden Stunden vorgefallen war, aber auf einmal wirkte sie genervt. Oder vielleicht traurig. Anders als sonst wurde sie nicht aggressiv, sondern immer stiller. Immer wieder ertappte ich sie dabei, wie sie geistesabwesend in die Ferne starrte. Wir schminkten uns, und meine Mutter fing Kelly vor dem Badezimmer ab. »Armes Baby, das hat deine Mommy dir angetan? Du liebe Güte, was ist denn passiert?«
Tracy starrte in den Spiegel, aber ich war mir sicher, dass sie nichts sah.
»Hey«, sagte ich.
Sie riss sich zusammen und wachte auf. Für den Bruchteil einer Sekunde war es, als hätte sie ihren Körper verlassen. Als wäre sie tatsächlich fort gewesen. Ich erschauderte.
»Was ist?«, sagte ich. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte sie hastig, »alles prima.«
»Ist irgendwas passiert?«, fragte ich. »Mit deinem Dad oder so?«
Sie griff zum Lippenstift, malte sich langsam den Mund an.
»Ja«, sagte sie, »jemand hat sich in meine Privatangelegenheiten eingemischt, und da musste ich ihr eine knallen.«
Mein Magen drehte sich um, meine Schultern verspannten sich. Wenn Tracy wollte,
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