Das Ende der Welt
erklärt. Aber sie hatte in Paul ihren Retter gesehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihn erschossen hatte. Und selbst, wenn sie es getan hätte, hätte sie sich verraten. Sie hätte ihr Portemonnaie am Tatort verloren oder Selbstmord begangen. Sie war eine chaotische Person.
Ich zog mein Smartphone heraus. Der Lama hatte mir eine Mail geschrieben.
Haben Sie etwas von Andray gehört?
Nein, hatte ich nicht.
Da war eine zweite Mail, von Sheila, der anderen Frau, mit der Paul sich getroffen hatte.
Das Buch ist mir wieder eingefallen. »Die dunklen Seiten des menschlichen Wesens« von Robert Bly.
Silette schrieb: »Die Detektivin, die vorgibt, die Wahrheit nicht zu sehen, begeht mehr als eine Todsünde. Sie setzt ihr Seelenheil aufs Spiel, denn sie verurteilt uns alle zu einem Leben in Schmerzen. Wir holen die Wahrheit nicht aus reinem Vergnügen ans Tageslicht; die Wahrheit ist die Axis mundi, die unbewegliche Himmelsachse. Wenn sie schief steht, ist nichts mehr richtig, alles rutscht an den falschen Ort, bis kein Licht mehr zu uns durchdringt. Das Glück meidet uns, und wir verbreiten Schmerz und Leid, wo wir auch sind. Mehr als alle anderen steht die Detektivin in der Pflicht, die Wahrheit zu erkennen und zu verteidigen; mehr als alle anderen, mehr als alle anderen.«
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45
Brooklyn
A m nächsten Tag fuhren wir aus keinem bestimmten Grund mit dem Zug bis zur Endhaltestelle auf Coney Island. Die Strecke verlief überirdisch und auf Stelzen, so dass man Coney Island meilenweit im Voraus sehen konnte, die neue und die alte Achterbahn und den seit langem geschlossenen Fallschirmsprungturm. Unter der dünnen Schneedecke sahen die Fahrgeschäfte so geheimnisvoll und einsam aus wie die Statuen auf den Osterinseln oder die ägyptischen Pyramiden.
An der Stillwell Avenue kam der Zug mit einem Bibbern zum Stehen, und wir stiegen aus. Unser erster Anlaufpunkt war die Bar, die in die Kopfhöhle des Bahnhofs hineingebaut worden war. Sie war dunkel und verdreckt. Am Tresen saßen zwei alte, weiße Männer, die Letzten einer aussterbenden Art, und tranken Whisky und Bier. Sie lachten nicht. Sie redeten nicht. Tracy und ich bestellten jeweils einen Tequila.
Nach dem Tequila liefen wir über die Straße zu Nathan’s. Der Laden war leer, abgesehen von einer Gruppe Mädchen aus der Sozialsiedlung und ein paar Jungen, die ihre Nähe suchten und an den Aluminiumtischen herumstanden. Tracy und ich starrten stur geradeaus.
»Weiße Schlampen!«
»Geht zurück nach Manhattan.«
Wir bestellten Hot Dogs und Pommes zum Mitnehmen und aßen draußen auf dem eisigen Pier, zitternd und mit Blick auf das schmutziggraue Meer.
»Ist das real?«, fragte Tracy stirnrunzelnd. »Würdest du es mir sagen?«, fragte sie. »Würdest du es mir sagen, wenn es nicht real wäre?«
Ich nickte. »Ja«, sagte ich, »versprochen.«
Danach gingen wir in die große Bar am Pier und bestellten noch mehr Tequila Shots und Bier. Ich ging zur Toilette und schaute in den Spiegel und schaute und schaute, aber ich konnte nichts erkennen. Wer war dieses Mädchen? War sie echt?
Wenn sie echt war, warum hatte sie dann nichts zu sagen? Warum tat sie nichts?
Ich hasste sie. Ich nahm meinen Lippenstift und strich ihr Gesicht im Spiegel durch, ich kritzelte darauf herum, bis es rot war, bis es nicht mehr existierte. Jemand hämmerte gegen die Tür.
»Verpiss dich!«, schrie ich.
Auf der Rückfahrt wurde Tracy von einem Mann angegafft. Männer begafften sie die ganze Zeit. Wir alle wurden ständig begafft. Wir versuchten, uns über den Fall zu unterhalten, aber der Mann lenkte sie ab. Er war jung, etwa Anfang zwanzig, und trug Anzug und Krawatte. Gott allein wusste, was er in Brooklyn verloren hatte.
»Wenn Chloe also bei CC ist …«, fing Tracy an, unterbrach sich aber sofort wieder. Sie bog den Cynthia Silverton Mystery Digest durch, den sie in der Hand hielt.
»Du liebe Güte«, murmelte sie, »was hat der für ein Problem?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Also. Wie wir wissen, mag CC …«
Aber Tracy hörte gar nicht zu. Sie starrte den Mann an. Im Zug war es still, nichts war zu hören außer dem Quietschen und Kreischen der Metallräder auf den Schienen. Manche Leute lasen. Manche starrten ins Nichts. Am Ende des Waggons beschmierten zwei Jungs die Heckscheibe. BDC – Brooklyn Danger Crew. Ich kannte sie nicht, erkannte aber ihre Tags wieder.
Tracy betrachtete den Mann. Zuerst lächelte er. Sie lächelte nicht zurück. Er
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