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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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und genießen die Fremde.«
    »Wo ist er jetzt?«, fragte ich.
    Der Lama zuckte die Achseln. »Als ich das letzte Mal von ihm hörte, war er in Kansas City.«
    Ich runzelte die Stirn. Ich stellte mir Andray in Kansas City vor, das auf seine ganz eigene Weise ebenso gefährlich wie New Orleans war, besonders für einen schwarzen Jungen aus dem Ghetto.
    »Wissen Sie«, sagte der Lama, »als Sie Andray begegneten, erfüllte sich ein vor vielen Menschenleben abgeschlossener Vertrag. Sie sind ihm nicht ohne Grund begegnet.«
    »Dann glauben Sie an einen Plan?«, fragte ich. »Alles wurde schon vor Ewigkeiten festgelegt?«
    »Vielleicht«, sagte der Lama. »Aber ich glaube es nicht. ›Festgelegt‹ ist das falsche Wort. Über Karma lässt sich nicht streiten. Aber das Schicksal schlägt interessante Umwege ein. Es ist, als bekäme man eine Reihe von Wörtern zur Verfügung gestellt; welches Gedicht man daraus macht, obliegt einem selbst.«
    Ich schwieg. Ich dachte an die Menschen, deren Leben ich zerstört hatte. Fast alle, denen ich jemals begegnet war, zumindest kam es mir in diesem Moment so vor.
    »Die Leute halten die Liebe für eine spirituelle Kraft«, sagte der Lama. »Für ein Gefühl. Damit kann ich nichts anfangen. In meinen Augen ist die Liebe ein körperlicher Akt. Liebe ist nicht ätherisch. Liebe bedeutet, einem Menschen treu zu bleiben, wenn er in die Klapse eingeliefert wird. Liebe ist, jemanden immer wieder anzurufen, auch wenn er nie zurückruft. Die Liebe ist schmutzig und handfest. Wissen Sie, die Liebe ist Erde und Dreck und Haare und Blut.«
    Ein Gong ertönte. Der Lama lächelte.
    »Kommen Sie, sehen Sie sich das Theaterstück an«, sagte er. »Die Kinder führen etwas auf. Das wird lustig. Sie freuen sich immer über Publikum.«
     
    Die »Bühne« war ein grasbewachsener Hügel am Waldrand. Jemand hatte eine Wäscheleine gespannt und Bettlaken aufgehängt, die mit der grauen Skyline einer Stadt bepinselt waren. Etwa zehn Kinder spielten mit, etwa zwanzig Erwachsene und Kinder saßen im Publikum. Die Kinder waren jüngere Ausgaben der Teenager, die ich im Garten gesehen hatte. Sie hatten weder Tattoos noch zerlumpte Klamotten, aber den gleichen Blick – verletzt, beschädigt und dennoch, unglaublicherweise, offen.
    Ein Junge, etwa zehn Jahre alt, betrat die Bühne.
    »Danke, dass ihr gekommen seid«, rief er der Menge fröhlich zu. Alle applaudierten. »Heute präsentieren euch die Dorje Temple Players das Musical
42
nd Street.
«
    Alle jubelten und klatschten und stampften auf den Rasen.
    Eine Mädchengruppe in bunt zusammengewürfelten Kostümen kam heraus und führte ein Tänzlein auf. Alle applaudierten. Ein zweiter Junge betrat die Bühne und schrie die Mädchen an.
    »Das nennt ihr eine Show?«, rief er. Die Mädchen versuchten, nicht zu kichern. »Ich will euch tanzen sehen, wie ihr noch nie getanzt habt!«
    Die Mädchen führten einen anderen Tanz auf. Diesmal machten die Jungen mit. Hinterher ging ich zu den Kindern und sagte ihnen, wie gut mir die Show gefallen hätte. Ich sagte ihnen, eine bessere hätte ich nie gesehen, was der Wahrheit entsprach, aber die Kinder waren jetzt schon abgestumpft und misstrauisch und glaubten mir kein Wort. Der Lama unterhielt sich mit ihnen, und ich ging zum Parkplatz. Als ich schon den Gang eingelegt hatte, sprang er plötzlich vor mein Auto, um mich aufzuhalten. Ich schaltete wieder auf Parken um und ließ die Seitenscheibe herunter.
    »Claire«, sagte er, »Sie sind hier immer willkommen, das wissen Sie. Nicht nur als Besucherin. Wenn Sie mal bei uns bleiben wollen, gern auch für länger – unsere Tür steht Ihnen immer offen. Constances Freunde sind auch meine Freunde. Bei so vielen Kindern können wir hier jede helfende Hand gebrauchen. Und Jenny … sie wird sich beruhigen.«
    »Danke«, sagte ich. Ich legte wieder den Gang ein, aber weil der Lama so merkwürdig dreinsah, nahm ich den Fuß nicht von der Bremse.
    »Wissen Sie«, sagte er, »als ich Constance kennenlernte, war ich kein Buddhist.«
    »Tatsächlich?«, sagte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Ich hielt mich für einen Detektiv«, erklärte er. »Ich war verwirrt. Sie machte mich in L.A. mit einem Lama bekannt, und das brachte den Stein ins Rollen. Tja. Es ist, wie ich sagte. Alle Freunde von Constance …«
    »Danke auch«, sagte ich und fuhr davon, bevor wir uns vergegenwärtigen konnten, wie peinlich die Situation war.
    Ich hielt in der nächsten Stadt, um vor der Rückfahrt noch

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