Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft
den versammelten Bankern,
es sei ihre Pflicht, auf die Panik zu reagieren. »Alle sind verwundbar«, teilte er den Managern mit – in der Hoffnung, er
könne sie dazu bewegen, Lehman entweder zu übernehmen oder eine geordnete Abwicklung einzuleiten.
Die Banker kamen am Morgen des folgenden Tages wieder, doch als sie nach Hause gingen, hatten sie keine Einigung erzielt.
Paulsons Versuch, den Geist J. P. Morgans zu beschwören, war gescheitert. 26 Inzwischen warf sich Merrill Lynch der Bank of America in die Arme, aus Furcht, das Schicksal von Lehman Brothers zu teilen.
»Wir haben über Moral Hazard diskutiert«, meinte einer der Anwesenden. »Ist das eine gute oder schlechte Sache? Das wird sich
weisen.«
Die dramatischen Ereignisse der folgenden Tage und Wochen hätten sich vermutlich kaum vermeiden lassen, unabhängig vom Konkurs
von Lehman Brothers. Doch die Geschwindigkeit und das Ausmaß des Zusammenbruchs waren ein Ergebnis der Schockwellen, die vom
Lehman-Konkurs ausgingen.
Das erste Opfer war AIG. Am 15. September meldete Lehman Brothers Konkurs an und die Ratingagenturen stuften AIG einhellig |155| zurück. Die Verluste des Unternehmens waren in den Vormonaten immer weiter gestiegen, doch dies brachte nun das Fass zum Überlaufen
und ließ Zweifel an den Garantien aufkommen, die der Versicherungsriese für mit AAA benotete CDO-Tranchen im Wert von einer
halben Billion Dollar ausgestellt hatte. Am Tag der Zurückstufung stellte die amerikanische Regierung AIG 85 Milliarden US-Dollar
zur Verfügung, weitere Mittel sollten in den kommenden Monaten folgen. Im Gegenzug wurde AIG ein Mündel des Staates, der überwiegende
Teil seines Aktienvermögens ging in Staatsbesitz über.
Es handelte sich weniger um eine Rettung von AIG als um eine Rettung derjenigen Banken, die Wertpapierversicherungen bei AIG
erworben hatten. Im Zuge der Übernahme kaufte die Regierung den Banken die CDO-Tranchen ab, die sie bei AIG versichert hatten.
Sie hätte den Banken auch einen »Haarschnitt« – also einen Verlust – verordnen können. Schließlich waren sie dumm genug gewesen,
sich darauf zu verlassen, dass AIG ihre Verluste wieder wettmachte. Doch die Regierung verzichtete darauf. Sie kaufte den
Banken ihre CDOs zum Ausgabepreis ab, obwohl der Wert der Tranchen inzwischen weit darunter gefallen war. Damit war die kompromisslose
Haltung gegenüber dem Moral Hazard endgültig Vergangenheit.
Nun kollabierten auch die Teile des Finanzsystems, die bislang von der Krise verschont geblieben waren. Geldmarktfonds gehörten
zu den ersten Opfern. Die Fonds waren vermeintlich sicher: Sie investierten das Geld ihrer Anleger in sichere und liquide
Wertpapiere mit sehr kurzen Laufzeiten. Zwar waren schon im Sommer einige der Fonds gestrauchelt, doch nach der Lehman-Pleite
brach Chaos aus. Der Reserve Primary Fund, einer der prominentesten Fonds, kündigte an, dass seine Anleger mit Verlusten rechnen
mussten. Das hatte es so noch nie gegeben, und die Folge war ein Run auf die Einlagen des Fonds.
War dieses Verhalten auch nur im Entferntesten rational? Die Antwort ist Ja. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Reserve
Primary |156| Fund einen Teil des Geldes seiner Investoren heimlich in den Giftpapieren angelegt hatte, unter anderem in Schuldtitel von
Lehman. Als dies bekannt wurde, geriet die gesamte 4 Billionen Dollar schwere Branche der Geldmarktfonds unter Verdacht. Diese
mutierte zur riesigen
terra incognita
, und dies bedeutete genau die Ungewissheit, wie sie Frank Knight beschrieben hatte. Innerhalb kürzester Zeit musste die Regierung
für alle bestehenden Geldmarktfonds Blankogarantien – die Entsprechung einer Einlagensicherung – abgeben.
Die Panik der Geldmarktfonds griff rasch auf andere Bereiche über, beginnend mit dem Handel mit Geldmarktpapieren, jenen Krediten
also, mit denen Unternehmen ihren laufenden Betrieb vorfinanzieren. Geldmarktfonds waren die wichtigsten Käufer für diese
Forderungen gewesen, und als sich ihr Schicksal wendete, kam auch der Handel mit Geldmarktpapieren zum Erliegen. Kerngesunde
Unternehmen konnten keine Kredite mehr aufnehmen, weil die Zinsen unerschwinglich geworden waren. In den Wochen dieser Liquiditätskrise
brach der Markt für Unternehmenskredite praktisch zusammen, und selbst Blue-Chip-Unternehmen ging das Geld aus.
Notzeiten erfordern Notmaßnahmen. Der Zusammenbruch des Handels mit Geldmarktpapieren mit einem
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