Das Ende des großen Fressens - · Wie die Nahrungsmittelindustrie Sie zu übermäßigem Essen verleitet - · Was Sie dagegen tun können
einer Speise sowie andere sensorische Reize ihre Anziehungskraft
verstärken und uns zum Essen motivieren, hat der Geschmack die bei weitem direkteste Verbindung zum körpereigenen Belohnungssystem. Als einziger unserer Sinne unterhält der Geschmackssinn eine Direktverbindung zum Gehirn, die auf Genuss reagiert. Damit ruft er die stärkste emotionale Reaktion hervor.
Gerard Smith, der bei der Erforschung des Ess- und Trinkverhaltens des Menschen am New Yorker Presbyterian Hospital Pionierarbeit geleistet hat, prägte den Begriff der »orosensorischen Selbststimulierung« [Ref 47] . Damit beschreibt er einen zyklischen Prozess, während dessen der Verzehr von Leckerbissen das Gehirn auffordert, unser Verlangen nach diesen Leckerbissen zu erhalten.
Die verstärkenden Eigenschaften von Speisen beruhen in erster Linie auf ihrer Fähigkeit, den Geschmacksapparat zu stimulieren. Wenn wir sagen, ob und wie sehr wir etwas mögen oder überhaupt wahrnehmen, beziehen wir uns in erster Linie auf die Sinne, die diese Speise im Mund anspricht–ihre orosensorischen Eigenschaften. »Wenn wir darüber sprechen, was uns zum Essen treibt oder den Appetit anregt, geht es immer um orosensorische Wirkungen«, erklärt Smith.
Die Neuronen im Gehirn, die sich durch den Geschmack und andere Eigenschaften hoch schmackhafter Lebensmittel ansprechen lassen, gehören zum Opioidschaltkreis, der das primäre Wohlfühlsystem des Körpers darstellt. Die Opioide oder Endorphine sind chemische Botenstoffe, die das Gehirn ausschüttet. Sie haben ähnliche belohnende Wirkungen wie Morphium oder Heroin. Wenn Nahrungsmittel diesen Opioidschaltkreis stimulieren, möchten wir essen.
Sobald wir ein hoch schmackhaftes Lebensmittel in den Mund
nehmen, senden die Geschmacksknospen in der Zunge ein Signal an einen bestimmten Bereich im Kleinhirn, der für die Steuerung vieler unwillkürlicher Tätigkeiten wie Atmung oder Verdauung zuständig ist.
Wenn das Kleinhirn ein solches Signal auffängt, aktiviert es den Neuronenschaltkreis, der natürliche Opioidmoleküle enthält. Diese Schaltkreise, die sowohl durch Leckereien als auch durch Drogen oder Medikamente angeregt werden können, ermöglichen dem Körper, eine Belohnungserfahrung wahrzunehmen. Als unbewusste Reaktion darauf bewegt ein Tier vielleicht Kiefer und Zunge; ein Kleinkind würde lächeln.
Die bewusste Wahrnehmung von Genuss und die Abspeicherung der damit einhergegangenen Erfahrungen ist eine höhere Hirnfunktion. Aus dem Kleinhirn wandert die Geschmacksempfindung durch das Zwischenhirn, bis sie Regionen erreicht, in denen die sensorischen Signale der Nahrung integriert werden. Diese Signale werden am Ende an den Nucleus accumbens weitergeleitet, eines der Belohnungszentren des Gehirns.
Die Opioide, die nach dem Verzehr von Speisen mit viel Zucker und Fett erzeugt werden, haben jedoch nicht nur stimulierende Wirkung, sondern können auch Schmerzen oder Stress lindern und uns beruhigen. [Ref 48] Kurzfristig fühlen wir uns also besser–was sich gut an Kindern beobachten lässt, die weniger weinen, wenn sie Zuckerwasser bekommen. Es wurde auch beobachtet, dass Tiere weniger Schmerzen empfinden, wenn sie opioidartige Substanzen erhalten, und noch weniger, wenn sie gleichzeitig ungehinderten Zugang zu Zucker haben.
In einem zyklischen Prozess aktiviert hoch schmackhafte Nahrung die Opioidschaltkreise, und diese Aktivierung erhöht wiederum den Konsum hoch schmackhafter Nahrung. [Ref 49] Studien haben
ergeben, dass Tiere mehr zucker- und fettreiche Nahrung zu sich nahmen, nachdem man ihnen Opioide gespritzt hatte. Vom Menschen wissen wir, dass nach der Einnahme von Stoffen zur Aktivierung der Opioidschaltkreise gutes Essen noch besser schmeckt und man mehr davon isst.
Der wissenschaftliche Fortschritt gestattet uns mittlerweile, molekulare Veränderungen in den neuronalen Schaltkreisen im Gehirn nachzuweisen, und kann damit demonstrieren, auf welche Weise Opioide uns anregen, beruhigen oder uns Genuss verschaffen. So sehen wir zum Beispiel, dass die molekulare Maschinerie, die im Körper Opioide herstellt, sich nach langfristiger Einnahme von Ensure ® -Schokolade verändert.
Die Beteiligung der Opioidkreisläufe kann auch ein Phänomen stören, das wir als »geschmacksspezifische Sättigung« bezeichnen. Wenn Tiere eine gewisse Menge von einem Nahrungsmittel gefressen haben, haben sie von diesem Geschmack normalerweise genug und hören auf–wenn jedoch noch etwas anderes bereitsteht,
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