Das Ende des Himmels: Roman (German Edition)
aufblickten, schienen sie sich auf ihn zu konzentrieren, und für einen Moment spürte er, dass es der Geist seiner Frau war, der schließlich den Sieg davongetragen hatte. Dieses Kind würde mutig und liebevoll sein – all das, was sein Bruder stets nur vorgetäuscht hatte.
»Hör auf zu weinen, meine Kleine«, sagte er mit sanfter Stimme. »Bei mir bist du in Sicherheit.«
Durch die Wand aus Schleim sah er, dass die blauen Lichter auf einmal flackerten. Er zählte fünfzehn Herzschläge, bis es vorbei war.
»Schto-pe-sung? Schto-pe-sung?«
»Hier!«, rief er, als ihm klar wurde, dass auch die neue Fackel ausgegangen sein musste. Indrani hätte eigentlich das blaue Licht hinter ihm sehen müssen, aber vermutlich wurde ihr die Sicht durch Kisten versperrt. Kurz darauf tauchte sie tatsächlich mit einem nutzlosen, abgebrannten Stück Holz in der Hand auf.
»Wir gehen jetzt«, sagte sie. »Es ist gut.«
Stolperzunge überlegte, ob er ihr vom Flackern der blauen Lichter erzählen sollte. Doch dann schüttelte er den Kopf. Es gab schon genügend Dinge, die ihnen Angst machten. Es war besser, sich ganz auf die Rettung ihres Stammes zu konzentrieren.
Indrani half ihm auf und gab ihm die Krücke. Dann humpelte er in der Dunkelheit hinter seiner Frau her. Sie kamen an Türmen aus Holzkisten vorbei. Natürlich warfen sie gelegentlich einen Blick hinein. Häufig fanden sie Krümel, die darauf hinwiesen, dass die Kisten irgendwann in der Vergangenheit Rationen für die Dachbewohner enthalten hatten. Doch jetzt waren alle leer. Viele lagen auf der Seite, wie aufgebrochene Knochen, die man nach einem Festmahl achtlos weggeworfen hatte.
Ohne die Fackel stieß Indrani immer wieder irgendwo an, worauf das Baby erschrocken in Tränen ausbrach. Doch schon bald bemerkten sie ein flackerndes Licht, das ihnen den Weg zu einer neuen Halle zeigte. Hier funktionierte immerhin noch ein Teil der Beleuchtung. Schleim rann an den Wänden herab, und an einigen Stellen schien er sich sogar seitwärts auf die noch brennenden Lampen zuzubewegen. Als wäre die Substanz lebendig und zu zielstrebigem Handeln imstande.
Drinnen standen viele Reihen der Kapseln mit den schlafenden Bestien, die Stolperzunge bereits mehrfach gesehen hatte.
Diese Wesen hatten zahlreiche kleine Gliedmaßen mit Haken. Irgendein schreckliches Ereignis hatte sie geweckt, wahrscheinlich der eindringende Schleim. So musste es gewesen sein, denn mehrere durchsichtige Scheiben in den Kapseln waren eingeschlagen worden, und einige der Wesen hatten es geschafft, einen Arm nach draußen zu strecken. Eins hatte sich das seltsame quadratische Gesicht zerschunden und war dennoch nicht aus dem Gefängnis entkommen. Stolperzunge tat die Bestie leid. Etwas geronnenes Blut bedeckte die Außenseite der Kapsel. Er rieb mit einem angefeuchteten Finger darüber, aber Indrani erlaubte ihm nicht, ihn zum Mund zu führen.
»Nein! Nicht gut!«
»Fleisch ist Fleisch, Indrani. Oder siehst du hier irgendwelche andere Nahrung?«
Sie kaute auf der Unterlippe, wie sie es häufig tat, wenn sie sich konzentrierte. »Nicht gut«, wiederholte sie. »Wie … wie Mooswesen essen, ja? Macht Gefühl nicht gut.«
»Meinst du, dass es giftig ist? Vielleicht wegen des Schleims?«
Sie zuckte mit den Schultern. Sie kannte nicht genügend Begriffe in seiner Sprache, um es erklären zu können. Als er das letzte Mal einen solchen Raum gesehen hatte, waren viele der Kapseln aufgebrochen worden, und man hatte von jeder Bestienart ein Stück Fleisch genommen. Als … als hätte jemand versucht, es zu essen, aber ohne Erfolg. Die arme hungrige Bestie – zweifellos die, gegen die er gekämpft hatte – war gezwungen gewesen, ihre Artgenossen zu essen, weil alle anderen Wesen unverträglich waren, bis sie schließlich Hiresh entdeckt hatte.
Stolperzunge schüttelte den Kopf. Er kam von einer Welt, wo sich alle intelligenten Wesen gegenseitig essen konnten. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass Fleisch schädlich für ihn sein konnte. Aber hatte Indrani nicht gesagt, dass die Bestien irgendwie verändert wurden, bevor man sie auf die Oberfläche schickte, damit sie und Stolperzunges Stamm sich gegenseitig als Nahrung dienen konnten? Für ein Volk, das Kannibalismus zutiefst verachtete, gaben sich die Dachbewohner außergewöhnlich große Mühe, genau das möglich zu machen. Sein Mund verzog sich vor Abscheu.
Sie schlängelten sich durch den Raum, in dem es weniger Pfützen gab. Hier waren viele der
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