Das Ende meiner Sucht
mich. »Du findest alles wunderbar. Du sagst zu mir: ›Schau diese Blume an, schau diesen Baum an … schau, wie schön das ist.‹«
»Ist es doch auch. Es ist herrlich.«
Sie lachte. »Okay, es ist herrlich, aber warum machst du so viel Aufhebens davon?«
Rückblickend begreife ich, dass ich unter Baclofen die schönen Tage zu sehen begann ohne die nostalgische Melancholie, die seitmeiner Kindheit wie ein Schatten über mir gelegen hatte. Ich fing an, das Leben ganz im Hier und Jetzt zu leben.
Über einen Hinweis stieß ich auf einen brandneuen Aufsatz in The Lancet, verfasst von B. A. Johnson et al. von der University of Texas. Der Aufsatz hatte den Titel »Oral topiramate for treatment of alcohol: a randomised controlled trial« (Orale Gabe von Topiramat bei der Behandlung von Alkoholabhängigkeit: eine randomisierte kontrollierte Studie), und in dem Abstract wurde eine 12-Wochen-Studie mit 150 alkoholabhängigen Personen beschrieben, die entweder Placebo erhielten oder in ansteigender Dosierung Topiramat, ein Mittel, von dem man annimmt, dass es die GABA-Aktivität im Gehirn fördert. Mir fiel das ins Auge, weil Baclofen ebenfalls die GABA-Aktivität beeinflusst; vielleicht wirkte Topiramat noch stärker. In dem Artikel hieß es, bei den Versuchsteilnehmern mit Topiramat seien »die Tage mit starkem Alkoholkonsum um 27,6 Prozent vermindert gewesen … und die abstinenten Tage um 26,2 Prozent erhöht …«, und eine ähnliche Reduktion sei beim Craving nach Alkohol zu beobachten gewesen. 3
Die Prozentsätze ähnelten dem, was für Naltrexon und Acamprosat berichtet wurde, die ich bereits ohne jedes Ergebnis eingenommen hatte. Aber mich beeindruckte der Umstand, dass der Aufsatz in The Lancet stand, neben The New England Journal of Medicine und The Journal of the American Medical Association eine der drei einflussreichsten Medizinzeitschriften. Die anderen Aufsätze, die ich gefunden hatte, waren jeweils in kleineren Spezialzeitschriften erschienen. Außerdem war die Topiramat-Studie umfangreicher und größer als die Baclofen-Studien in den anderen Aufsätzen, und es war eine randomisierte kontrollierte Studie, der Goldstandard der modernen Forschung. Und nicht zuletzt war sie brandneu.
Das musste der Durchbruch sein, sagte ich mir. Es erschien mir als die größte Chance, doch noch vollständige Alkoholabstinenz zu erreichen. Ich ging in die medizinische Bibliothek des Centre Pompidou, um den ganzen Artikel zu lesen und zu fotokopieren.
Über zehn Tage hinweg reduzierte ich meine Baclofen-Dosis auf null. Mit meinem Arztausweis kaufte ich Topiramat, und dann nahm ich entsprechend dem Protokoll aus dem Lancet- Artikel über zwölf Wochen Topiramat und steigerte dabei die Dosis von 25 auf 300 Milligramm täglich.
In dem gesamten Zeitraum verminderte das Topiramat mein Craving nach Alkohol nicht merklich, und es half nicht im Geringsten gegen meine Angst und Muskelverspannungen, wie es Baclofen tat. Ebenfalls im Gegensatz zu Baclofen hatte Topiramat unangenehme Nebenwirkungen wie Konzentrationsstörungen und Beeinträchtigung des Gedächtnisses, die auch nach längerer Einnahme nicht verschwanden. Was die Wirkung gegen den Alkoholismus wie das allgemeine Wohlbefinden anbetraf, wirkte Baclofen bei mir eindeutig besser. Und wieder überlegte ich, ob eine höhere Dosis als 180 Milligramm pro Tag wohl sicher wäre.
Es war Zeit, Philippe Coumel mitzuteilen, womit ich mich beschäftigte.
Er lag im Krankenhaus, als ich ihn im August besuchte, sein Anblick erschreckte mich. Er war offensichtlich sehr krank, doch seine intelligenten Augen und sein Lächeln waren unverändert, und sein Verstand war messerscharf wie eh und je.
Seine Frau saß bei ihm, als ich das Krankenzimmer betrat, ich sah sie zum ersten Mal. Nach einiger Zeit entschuldigte sie sich, damit Philippe und ich unter vier Augen reden konnten.
Ich informierte ihn über den Stand meiner neuesten Online-Recherchen und meine Selbstversuche mit Baclofen und Topiramat. Ich schilderte, wie Baclofen bei mir vollkommen anders wirkte als alle anderen Medikamente, die ich gegen Angst und Alkoholismus eingenommen hatte. Und ich legte dar, warum ich vermutete, dass die beste weitere Behandlungsstrategie darin bestand, meine tägliche Baclofen-Dosis langsam zu steigern, bis ich entweder vollständige Abstinenz erreichte oder die Nebenwirkungen zu stark würden.
Genau wie damals, als ich ihm die Erkenntnisse meiner medizinischen Doktorarbeit vorgetragen hatte,
Weitere Kostenlose Bücher