Das Ende meiner Sucht
regelmäßig aufsuchte, kam mir die Idee zu fragen: »Ganz hier in der Nähe ist doch ein Park. Können Sie mir sagen, wie ich dorthin komme?« Eine Viertelstunde später war ich im Parc de Saint Cloud, von wo sich ein herrlicher Blick nach Osten über Paris bietet.
Der Parc de Saint Cloud ist ein Naturschutzgebiet vor den Toren von Paris, dort befand sich das Château de Saint Cloud aus dem späten 16. Jahrhundert. Ludwig XVI. kaufte das Schloss als privaten Landsitz für Marie Antoinette, dort krönte sich Napoleon 1804 zum französischen Kaiser, und 1852 folgte ihm sein Neffe Napoleon III. Das Schloss wurde im Deutsch-Französischen Krieg 1870 zerstört, aber andere historische Gebäude sind inmitten der 460 Hektar Wald und Garten der Parkanlage noch erhalten geblieben.
Doch mich zog meine persönliche Geschichte in den Park. In meiner Kindheit war er das bevorzugte Ziel sonntäglicher Ausflüge gewesen, weiter weg von zu Hause und mit mehr Abenteuernverbunden als die anderen Parks, die wir in und um Paris besuchten. Gleich bei dem Park begann außerdem die Autobahn von Paris in die Normandie, und insofern war er mein persönlicher Markierungspunkt, der den Beginn der Sommerferien und der wunderbaren Tage am Meer bedeutete.
Als ich nun zum ersten Mal seit Kindertagen wieder durch den Park spazierte, fühlte es sich an wie eine Vorahnung der Klarheit und Ruhe eines Lebens ohne Angst, Panik und Alkohol. Es war, als träte ich in das Leben danach ein, sagte ich mir. Ein intensives Gefühl von Alice im Wunderland erfüllte mich an diesem Tag und noch ein paar Tage danach.
Es war nicht so, als würde ich in das Leben vor dem Alkohol zurückkehren, was bedeutet hätte, in einen Zustand chronischer Angst und Gefährdung durch Abhängigkeit zurückzufallen. Vielmehr fühlte es sich so an, als würde ich meine Krankheit überspringen, als hätte es sie nie gegeben, als überschritte ich eine Schwelle, die meine früheste Kindheit unmittelbar mit meiner Zukunft verband.
Um diese Zeit kam ich auf die Idee, meine Online-Recherchen auszuweiten und auch Tierversuche mit Baclofen einzubeziehen. Einmal, an einem Vormittag Mitte Februar, suchte ich in verschiedenen Kombinationen mit den Stichwörtern »Baclofen, Panik, Ratten, Alkohol, Kokain, Heroin« . Ein Link tauchte auf zu einem Abstract eines Aufsatzes aus dem Jahr 1997 in der Zeitschrift Psychopharmacology mit dem Titel »Baclofen suppression of cocaine self-administration« (Unterdrückung von Kokainselbstverabreichung durch Baclofen), Verfasser waren D. C. Roberts und M. M. Andrews vom Institute of Neuroscience an der Carleton University im kanadischen Ottawa. In dem Abstract stand zu lesen, bei einem Versuch mit Ratten, die man kokainabhängig gemacht hatte und die sich durch Druck eines Hebels das Kokain selbst verabreichen konnten, habe eine Baclofen-Dosis von 1,25 bis 5 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht »die Kokainaufnahme für mindestens 4 [Stunden] unterdrückt«, und»frühere Ergebnisse lassen vermuten, dass Baclofen spezifisch dahingehend wirkt, den Antrieb [der süchtigen Ratten] zur Beschaffung von Kokain zu vermindern«. 2
Die Wörter »Unterdrückung« und »unterdrücken« faszinierten mich. Ich fragte mich, ob Baclofen in der Lage sein könnte, das Craving nach einem Suchtmittel gänzlich zu unterdrücken und nicht nur zu vermindern. Die weitere Aussage in dem Abstract, Baclofen könne »den Antrieb zur Beschaffung von Kokain … vermindern«, bremste jedoch meine Begeisterung. Obwohl ein verminderter Antrieb, Alkohol zu konsumieren, sicher positiv und wünschenswert wäre, schien das Wort Unterdrückung viel mehr zu versprechen.
Außerdem beschäftigte mich die Dosierungsangabe in dem Abstract: 1,25 bis 5 Milligramm Baclofen pro Kilogramm Körpergewicht. Das sprach dafür, dass die Wirkungen von Baclofen stark dosisabhängig waren. Mich ermutigte das, denn es ließ vermuten, dass eine höhere Dosis als 180 Milligramm pro Tag mir zu der dauerhaften Alkoholabstinenz verhelfen könnte, von der ich träumte. Womöglich war sogar eine sehr hohe Dosis, mehr als 400 Milligramm pro Tag, erforderlich, und das ließ bei mir wieder die Alarmglocken hinsichtlich der Sicherheit von Baclofen schrillen. Wenn ich im Grab lag, hatte ich nichts mehr von der Abstinenz.
Ich machte mit meiner neuen Freundin einen Ausflug in den Parc de Saint Cloud. Wieder fühlte ich, dass la vie d’après begann, das Leben danach.
»Du bist wie ein kleiner Junge«, neckte sie
Weitere Kostenlose Bücher