Das Ende meiner Sucht
hörte Philippe mit gebannter Aufmerksamkeit zu und bat nur gelegentlich, dass ich Näheres zu Veränderungen bei meiner Angst- und Alkoholsymptomatik unter den verschiedenen Medikamenten sagte. Er vergaß seine eigenen Sorgen und widmete sich als mein Mentor und mein Freund ganz der Aufgabe, mir dabei zu helfen, meine Selbstdiagnose und meine Überlegungen zur Behandlung meines Alkoholismus mit hoch dosiertem Baclofen weiter auszuarbeiten.
Er sagte: »Olivier, Sie waren bei Ihren Patienten immer ein hervorragender Zuhörer, und jetzt bieten Sie sich das selbst: Sie geben hervorragende Beschreibungen. Ihre Überlegungen, dass Muskelspannungen und Verlangen nach einem Suchtmittel durch einen unbekannten Mechanismus verbunden sein müssen, sind absolut einleuchtend. Lassen Sie sich nicht von Enttäuschung überwältigen, wenn Sie sich irren sollten. Aber Ihr Plan könnte funktionieren, und ich denke, er wird funktionieren. Ich freue mich, von Ihren Ergebnissen zu hören.«
Es waren vier Jahre vergangen, seit Philippe mich ermahnt hatte, auf mich zu achten. Er hatte mir so denkwürdige Sätze geschrieben: »Ich lasse Sie nicht im Stich und werde mich nie abwenden. Aber viel wichtiger: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein so kluger Mann wie Sie nicht die Lösung findet.«
Er war seinen Worten treu geblieben. Und ich tat alles, um seine Erwartungen nicht zu enttäuschen.
7. DAS CRAVING DURCHBRECHEN
Ende August legte sich eine historische Hitzewelle über Paris. Viele ältere Menschen starben.
Meine persönliche Tragödie war damit nicht zu vergleichen: Ich verlor nur meinen Computer. Er stürzte total ab, und ich hatte keine Sicherungskopien. Alle wichtigen Abstracts, die ich gesammelt hatte, um mein Leben zu retten, waren weg. Am ganzen Körper brach mir kalter Schweiß aus, und ich wurde beinahe ohnmächtig. Ich fürchtete, ich könnte einen Herzinfarkt bekommen. Der beruhigende Effekt von 180 Milligramm Baclofen verflüchtigte sich angesichts dieses traumatischen Schocks. Ich nahm sofort noch einmal 80 Milligramm und legte mich hin.
Zu meiner Überraschung und Erleichterung ging es mir nach einer Stunde langsam besser. Ohne Baclofen wäre ich wohl über Tage oder Wochen in einem hoffnungslosen Zustand geblieben. Aber jetzt kamen mir positive Gedanken in den Sinn: Ich war am Leben und konnte alles wieder zusammentragen, wie ich es schon einmal gemacht hatte. Tatsächlich hatte ich die meisten Abstracts ausgedruckt, und dank meines guten Gedächtnisses und mithilfe neuer Online-Suchdurchgänge stellte ich in kurzer Zeit den größten Teil meiner Forschungen wieder her. Stück für Stück gewann ich mein Vertrauen zurück und sichtete alles noch einmal, was ich über Alkoholismus, Abhängigkeit allgemein und Baclofen erfahren und was ich daraus gefolgert hatte. Und ich kam zu einem wichtigen Schluss:
Ein Merkmal, das Abhängigkeit von der großen Mehrzahl anderer Krankheiten unterscheidet, ist, dass sie symptomgetrieben undsymptomabhängig ist. Bei der Sucht sind die Symptome die Krankheit.
Bei nahezu allen anderen Krankheiten treiben nicht die Symptome die Krankheit voran. Oft können Symptome, wenn sie auftreten, unterdrückt werden, während die Krankheit selbst weiter im Körper wütet. Man denke nur an das Fieber bei Tuberkulose, die Bauchschmerzen bei Bauchspeicheldrüsenkrebs, die Brustenge bei schwerer koronarer Herzkrankheit. Die Symptome zurückzudrängen bedeutet nicht, die Krankheit aufzuhalten.
Viele Krankheiten, zum Beispiel manche Arten von Krebs und Herzkrankheiten, verlaufen symptomfrei. Weil die Patienten keine Symptome spüren, spricht man in der Medizin von den »stillen Killern«, die oft erst entdeckt werden, wenn es zu spät ist, um das Leben des Patienten zu retten. Aber eine Abhängigkeit ist nicht von ihren Symptomen zu trennen. Wenn es gelänge, die Symptome der Abhängigkeit zu unterdrücken – das Verlangen nach dem Suchtmittel, die obsessiven Gedanken und den Antrieb, ein Suchtmittel zu konsumieren oder ein suchthaftes Verhalten zu praktizieren –, dann wäre die Sucht überwunden, der Patient ginge in vollständige Remission.
Die Symptome der Sucht zu schlagen würde die Krankheit lahmlegen, weil man ihr all ihre Waffen weggenommen hätte.
Eine ähnlich enge Verbindung zwischen Krankheit und den erlebten Symptomen gibt es bei den Krankheiten, die einer Sucht vorausgehen wie Angst, Panik und Depression. Von vielen Abhängigen hatte ich gehört (und ich kannte es von mir
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