Das Ende meiner Sucht
getrunken?), nur um festzustellen, dass ich das erlebte, was man »Alkoholtraum« oder »betrunkenen Traum« nennt. Der Geschmack von Alkohol ist so stark, dass man sich unwillkürlich nach der Flasche umsieht, aus der man getrunken zu haben glaubt. Ein Alkoholtraum ist ein sehr beängstigendes, verwirrendes Erlebnis und kann selbst noch nach Jahren der Abstinenz wieder einen Rückfall auslösen. Bei den AA und in den Entzugskliniken geben sie solchen Träumen eine positive Deutung und sagen, sie seien ein Zeichen des Fortschritts in Richtung Nüchternheit. Aber es ist ein seltsamer Fortschritt, der den Patienten in einen so elenden Zustand bringt. In meiner Zeit als Alkoholiker hatte ich derartige Träume mindestens einmal im Monat, und daran konnten auch 180 Milligramm Baclofen täglich nichts ändern.
Es gab eine positive, eindrückliche Erfahrung, die ich mit Patienten teilte, die Baclofen in viel niedrigeren Dosen nahmen: Ich verspürte kein Verlangen nach dem Medikament. Es ist entscheidend wichtig, dass ein Mittel gegen Sucht nicht selbst süchtig macht. Und dieses Kriterium erfüllte Baclofen.
Langsam und vorsichtig unternahm ich Vorstöße in die Welt. Ich bewies mir, dass ich mich hin und wieder immer noch außerhalb einesSchnapsladens und des kleinen Kreises von Ärzten und Freunden zeigen konnte, in dem ich mich sonst während meiner nüchternen Phasen aufgehalten hatte. Bevor ich zu trinken begann, war ich begeisterter Skifahrer gewesen und furchtlos die steilsten und eisigsten Pisten hinabgesaust, ohne mich jemals zu verletzen. (Jean-Claude, Eva und ich, wir hatten alle als kleine Kinder Skifahren gelernt, einfach indem wir unserem Vater hinterherfuhren und seine auf natürliche Weise athletische Technik nachahmten. Jean-Claude war so begabt, dass ihn mit etwa zehn Jahren ein Trainer der französischen Ski-Nationalmannschaft ansprach und ihm sagte, er solle für Wettkämpfe trainieren.) Nun war ich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder in der Lage, meine Ängste zu überwinden und ein paar Tage in den französischen Alpen zu verbringen. Ich genoss die Zeit unbeschreiblich (und schaffte es, mir nichts zu brechen). Es fühlte sich herrlich an, wenigstens ein kleines Stück von dem zurückzuerobern, was ich an den Alkoholismus verloren hatte.
Ich trennte mich von einer Frau, fing etwas mit einer anderen an, verliebte mich sehr in eine Dritte. Ich machte richtige Ferien und fuhr für eine Woche nach Eilat, den israelischen Ferienort am Roten Meer. Es war meine erste Flugreise seit der Rückkehr nach Paris drei Jahre zuvor. Ich fürchtete, ich würde auf dem Hin- und Rückflug trinken, aber es gelang mir, es nicht zu tun.
Ich knüpfte vorsichtig neue Freundschaften und belebte alte wieder. Im Herbst 2002 begegnete ich auf der Straße einer alten Freundin von Eva namens Rebecca. Ich hatte sie seit über 20 Jahren nicht mehr gesehen, aber wir erkannten uns auf Anhieb wieder. Rebecca hatte eine ihrer beiden Töchter dabei und erzählte mir, dass sie außerdem einen Sohn habe. Sie lud mich zum Abendessen ein, damit ich alle drei Kinder und ihren Ehemann kennenlernte.
Wir tauschten unsere Telefonnummern aus, und bei einem Telefongespräch ein paar Tage später erzählte ich Rebecca von meinem Alkoholproblem. »Ich weiß, so etwas erwartest du nicht in meiner Familie«, schloss ich. Sie nahm meine Enthüllung ganz ruhig auf undwiederholte ihre Einladung zum Abendessen. In kurzer Zeit wurde sie zu meiner engsten Vertrauten. Sehr viel später sagte sie mir, bis sie mich einmal betrunken erlebt habe, habe sie nicht glauben können, dass ich tatsächlich Alkoholiker war, denn: »Du wirktest immer so gepflegt und so ausgeglichen. Du schienst nie in Schwierigkeiten zu sein. Ich dachte, dein Gerede über Alkohol sei nur eine pathetische Pose.«
Wenn mein Alkoholismus nur eine Pose gewesen wäre, hätte ich sie ablegen können, sobald ich ihrer überdrüssig geworden war. Es dauerte nicht lang, da sah Rebecca mich nicht nur betrunken, sondern bewusstlos in meiner Wohnung, inmitten von Erbrochenem, um mich herum Glassplitter. Viele Male säuberte sie mich und putzte meine Wohnung.
Anfang 2003, mit ein paar Tagen Nüchternheit im Rücken, fuhr ich mit der Metro zu meinem Alkoholspezialisten in einem westlichen Vorort von Paris. Es war ein normaler Termin, eine neue Erörterung oder neue Entscheidungen über meine Behandlung standen nicht an. Beim Abschied von dem Spezialisten, den ich nun seit vielen Monaten
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