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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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sonst. Die Ärzte, die ich kannte und denen ich vertraute, waren nicht erreichbar, und ich konnte mir nicht vorstellen, einem anderen Arzt zu erklären, warum ich notfallmäßig ein Rezept für Valium brauchte.
    Joan verstand mein Problem nicht. »Warum brauchst du das Valium so dringend?«, fragte sie.
    Ich erklärte ihr, dass beim Alkoholentzug leicht eine Notfallsituation eintreten kann mit Delirium tremens, epileptischen Anfällen, Bewusstseinsverlust, Halluzinationen und Blutdruckspitzen, was schlimmstenfalls mit dem Tod endet. Das Risiko ernster, potenziell tödlicher medizinischer Folgen ist beim akuten Alkoholentzug viel höher als beim Entzug von jeder anderen Droge.
    Ich erklärte ihr auch, dass früher, bevor es Valium und ähnliche Medikamente gab, die Entgiftung so durchgeführt wurde, dass man den Betroffenen immer geringere Dosen von Alkohol verabreichte. Wenn ich hinausgehen und Alkohol kaufen könnte, könnte ich die Verschlimmerung meiner Symptome aufhalten. Aber meine Arme und Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi, ich war so erschöpft, dass ich nicht einmal stehen konnte. Voller Angst vor dem, was passieren konnte, bat ich Joan: »Bitte, kauf eine Flasche Wodka und bring sie mir.«
    Joan lehnte ab. Rückblickend denke ich, ich hätte Joan ein Rezept für Valium ausstellen können, und sie hätte die Tabletten dann mir geben können. Aber damals entsetzte mich der Gedanke, ich könnte etwas tun, das gegen mein ärztliches Ethos verstieß.
    Ich sagte zu ihr: »Ich bin in einer medizinischen Notsituation. Entweder trinke ich etwas, oder es kommt zu einem neurologischen Zwischenfall, zum Beispiel einem Krampfanfall.«
    Joan wusste, dass ich ein guter Arzt war, aber sie wusste auch, wie stark alkoholabhängig ich war. Joan, die groß gewachsene Managerin, schaute mir in die Augen und sagte: »Tut mir leid, Olivier, aber ich kann dir keinen Alkohol geben.«
    Ich argumentierte nicht weiter. »Irgendetwas wird mit mir passieren. Wenn es so weit ist, musst du einen Krankenwagen rufen und mich ins New York Hospital bringen lassen. Ich will in diesem Zustand nicht in mein eigenes Krankenhaus gehen, aber im New York Hospital werden sie sich gut um mich kümmern.«
    »Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«
    »Du kannst mir entweder Alkohol geben, oder wir warten, bis das Schlimme eintritt.«
    Wir warteten.
    Eine halbe Stunde später spürte ich eine seltsame Erregung, vermischt mit Erleichterung. Ich fragte mich, ob das die »Aura« war, die einem Anfall vorausgeht. Und dann verlor ich das Bewusstsein. Ich bekam noch bruchstückhaft mit, dass Ärzte und Sanitäter in der Lobby des Hauses, in dem ich wohnte, oder auf der Straße herumliefen, und irgendwann später zog jemand einen Vorhang um mein Krankenhausbett zu und flüsterte: »Er ist Arzt hier.« Dann verlor ich wieder das Bewusstsein.
    Als ich erwachte, hing ich an etlichen Infusionen und hatte einen Katheter. Ein junger Medizinstudent, ein bisschen wichtigtuerisch, aber freundlich, tauchte auf und befragte mich zu meiner »Krankheit«. Mir gefiel seine Wortwahl so sehr, dass ich nicht nach einer erfahrenen Krankenschwester oder einem Arzt im praktischen Jahr verlangte, sondern ihn meine Blutgase messen ließ. Es wurde eine lange, schmerzhafte Prozedur, weil ich sein erstes lebendes Objekt war.
    Als nächster Besucher kam Professor John Schaefer, ein herausragender Neurologe, ursprünglich aus Australien, den ich sehr gutkannte und sehr bewunderte. Mit selbstverständlicher Freundlichkeit und ohne einen Anflug moralischer Verurteilung erklärte er mir, ich hätte mehrere Anfälle gehabt, die man durch die intravenöse Gabe von Valium unter Kontrolle bekommen habe. Über zwei Tage sei ich stark sediert worden, und nun erhielte ich weiter intravenös Valium gegen die akuten Entzugssymptome.
    Die Anfälle waren so heftig gewesen, dass sie zu Rhabdomyolyse, Muskelzerfall, geführt hatten. Die Zerfallsprodukte wirken toxisch auf die Nieren und werden durch einen Anstieg der CPK, der Kreatinin-Phosphokinase-Isoenzyme, im Blut gemessen. Das Gleiche passiert bei einem sogenannten Crush-Syndrom, wenn es zum Beispiel bei einem Autounfall oder einem Erdbeben zu schweren körperlichen Verletzungen kommt. Erst kürzlich erzählte mir ein Kollege, als er auf der Intensivstation meine Kurve gesehen habe, habe er angenommen, ich sei in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt gewesen, weil meine CPK-Werte so extrem hoch waren. Die Rhabdomyolyse erklärte

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