Das Ende meiner Sucht
Ursache-Wirkung-Beziehung nebeneinander bestehen.
Diese Annahme resultiert aus der Tatsache, dass beispielsweise Ängste oder Depressionen Menschen viel seltener zum Arzt führen als eine Sucht. Darum wird die primäre Diagnose fast immer Sucht lauten und die sekundäre Diagnose Angst, Depression oder eine andere affektive Störung. Meine Ärzte etwa stellten mir die Diagnose »Alkoholabhängigkeit mit Begleiterkrankung Angststörung«.
Es stimmt sicher, dass eine Sucht ihren eigenen Kreislauf von Angst und Depression erzeugt. Aber wie ich ausgehend von meinem eigenen Fall und Beobachtungen bei anderen schon immer dachte und wie jüngste wissenschaftliche Forschungen bestätigt haben, gibt es in der Regel eine zugrunde liegende Störung, eine Krankheit vor der Sucht, die die Bühne für die Suchterkrankung bereitet. Oder um es direkter zu formulieren: Angst, Depression, Zwangsproblematik oder eine andere Störung war zuerst da. 1 Ich litt an Ängsten, lange bevor ich Alkoholiker wurde. Aber alle, die mich wegen meiner Alkoholsucht behandelten, ignorierten diesen Punkt, wie oft ich ihn auch wiederholte.
Ich sagte allen meinen Ärzten: »Ich nehme Alkohol als Tranquilizer. Wenn Sie mich von der Angst befreien, werde ich mit dem Trinken aufhören.«
Und alle meine Ärzte sagten mir: »Sie haben Angst, weil Sie trinken. Hören Sie mit dem Trinken auf, und Ihre Angst wird weggehen.«
Alkoholismus gab es in meiner erweiterten Familie in Europa und Amerika nicht. Aber meine Mutter neigte zu Angst und Nervosität (in Anbetracht ihrer Erlebnisse mit gutem Grund), und das wurde Teil meiner Veranlagung und Erziehung.
Beide Seiten meiner Familie waren ursprünglich polnische Juden. Mein Vater Emmanuel (»Maniek« für meine Mutter und seine engsten Freunde) stammte aus Krakau. Sein Geigenlehrer wollte ihn, als er im Teenageralter war, nach Berlin schicken zur Ausbildung zumSolisten bei den größten Geigenvirtuosen seiner Zeit. Aber mein Vater, ein wandelndes Lexikon mit einer Leidenschaft zum Lernen, von Altgriechisch bis zur Oper, von Astronomie bis Zoologie, entschied sich für ein Ingenieurstudium.
1932, mit 24 Jahren, schrieb er sich am Institut Polytechnique de Grenoble ein, wie es heute heißt, dem französischen Äquivalent zum MIT. Er sprach kein Wort Französisch, als er in Grenoble ankam, aber beherrschte die Sprache bald fließend, wenngleich immer mit einem leichten Akzent, und beendete sein Studium mit Auszeichnung. Von Grenoble aus ging er nach Paris und machte dort den Bruder seines Vaters ausfindig, der seinen Namen Edward Ameisen in Edward William Titus geändert hatte. Titus war eine seltsame Wahl für einen Juden, denn es war der Name des römischen Kaisers, der den Tempel in Jerusalem zerstört hatte. Aber Edward Titus verstieß gerne gegen Konventionen.
1908 hatte Edward William Titus in London Helena Rubinstein geheiratet, und seitdem half er ihr beim Aufbau des Unternehmens, das einmal das große Kosmetikimperium werden sollte. Helena Rubinstein war nur 1,48 Meter groß, aber gefürchtet für ihr tyrannisches Gebaren. Doch mein Vater gewann mit seiner Sachkenntnis als Ingenieur und seinen Talenten als Manager bald ihr Vertrauen und stieg im französischen Teil ihres Konzerns rasch zu einer leitenden Position auf (von seinem Onkel Titus ließ sie sich 1937 scheiden, weil er immer wieder Affären hatte).
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs trat mein Vater, obgleich immer noch polnischer Staatsbürger, als Freiwilliger in die französische Armee ein. Er wurde an der Front in Nordfrankreich eingesetzt, geriet 1940 in deutsche Gefangenschaft und wurde in ein Kriegsgefangenenlager nach Pommern gebracht. Innerhalb weniger Tage fanden die Deutschen heraus, dass er Jude war, und schickten ihn in ein Arbeitslager. Nach der Befreiung dieses Lagers durch die Truppen von General George Patton in den letzten Monaten des Krieges in Europa kehrte mein Vater nach Paris zurück und machte sich daran, diefranzösische Niederlassung von Helena Rubinstein wiederaufzubauen. Er wurde Geschäftsführer.
Meine Mutter Janina (»Yanka«) Schanz war bei Kriegsbeginn erst siebzehn, aber schon Studentin an der Jagiellonen-Universität in Krakau, im selben Philosophiejahrgang wie Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II. Ihr Vater besaß eine florierende Textilfabrik in der südpolnischen Stadt Bielsko-Biała. Samuel Schanz machte sich keine Illusionen, wie Nazi-Deutschland über die Juden dachte. Sein Bruder war
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