Das Ende meiner Sucht
den Katheter und einen Teil der Infusionen: Sie sollten dafür sorgen, dass ich ausreichend Flüssigkeit erhielt, um ein Nierenversagen zu verhindern.
»Du hättest beinahe deine Nieren verloren, mein Lieber«, sagte John. Die für ihn typische joviale Anrede »mein Lieber« tat mir gut und gab mir das Gefühl, ich könne mit ihm über das wahre Problem sprechen: dass ich meinem Körper dieses Trauma durch exzessives Trinken zugefügt hatte. (Vielleicht war es gut für meine damalige Verfassung, dass er mir erst viel später erzählte, ich sei damals mit der Diagnose »status epilepticus« aufgenommen worden, Daueranfällen, und sei »dem Tode nahe« gewesen.)
»Du wirst melden müssen, dass ich …«, begann ich.
»Im Gegenteil«, unterbrach mich John. »Ich möchte mich für dich verwenden. Ich weiß, dass du den ganzen Sommer über keine Patienten behandelt hast. Zu viele Ärzte praktizieren jahrelang weiter, obwohl sie alkoholabhängig und sich dessen bewusst sind.«
»Ich werde als Dozent und als Arzt hier ausscheiden.«
John schüttelte den Kopf. »Bist du verrückt? Du wirst nicht ausscheiden, weil du krank bist.«
»Ich weiß, dass Alkoholismus eine Krankheit ist. Aber in meinem Fall geht es nicht darum. Ich weiß, ich sollte in der Lage sein, mein Trinkverhalten zu kontrollieren, aber bisher ist es mir nicht gelungen. Ich denke, ich bin zu schwach. Verstehst du?«
»Nein«, entgegnete John. »Es ist wirklich eine Krankheit. Eine Krankheit, die du überwinden wirst, und dann kommst du zurück und arbeitest wieder normal. Unterdessen solltest du dich an einen Spezialisten wenden. Wenn du einverstanden bist, würde ich gern eine Freundin, Professor Elizabeth Khuri, als Konsiliarärztin hinzuziehen. Sie arbeitet gleich um die Ecke im Krankenhaus der Rockefeller University und hat hier auch eine Praxis. Wärst du einverstanden?«
»Kann ich ihr sagen …?«
»Du kannst ihr alles sagen, und niemand im Krankenhaus wird davon erfahren, auch ich nicht.«
»In Ordnung, ich spreche gerne mit ihr. Danke. Danke für alles.«
»War mir eine Freude, mein Lieber. Ich werde morgen früh wieder nach dir sehen. Jetzt ruh dich erst einmal aus.«
»John, meinst du in Anbetracht des Infektionsrisikos nicht, der Katheter könnte jetzt gezogen werden?«
John lachte. »Es geht dir wohl besser, wenn du die Energie hast, dich gegen diese Anordnung zu wehren, und mit dem Infektionsrisiko hast du recht. Ich sage der Oberschwester Bescheid. Jetzt ruh dich aus, und bald wird alles wieder normal sein.«
Ich fragte mich, ob es für mich jemals wieder Normalität geben würde. Eines war klar und ließ sich nicht länger verleugnen: Ich war Alkoholiker.
2. EIN HEILMITTEL, DAS ALLES NUR SCHLIMMER MACHT
Es heißt, Alkoholismus liege in der Familie. In meiner lag er nicht. Anders als in den meisten französischen Familien üblich, gab es bei uns nie Wein zum Essen, und meine Eltern tranken überhaupt höchst selten Alkohol, sowohl zu Hause wie im Urlaub. Zwei oder drei Mal im Jahr sah ich sie abends mit einem kleinen Glas Scotch, und einmal im Jahr, zu Pessach, gab es einen Schluck Wein. Das war alles.
Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass nicht die Sucht über Generationen immer wieder auftaucht, sondern die Dysphorie (das Gegenteil von Euphorie): eine chronische, unterschwellige Verstimmung, die Menschen in unterschiedlichem Grad für Süchte und andere zwanghafte Verhaltensweisen anfällig macht.
Die Suchtmedizin weiß seit Langem, dass Menschen mit einer Sucht oder Zwangsstörung häufig an Symptomen wie Ängstlichkeit, Depression und/oder affektiven oder Persönlichkeitsstörungen leiden. (Die Medizin unterscheidet zur präzisen Diagnose zwischen Angststörungen, affektiven Störungen und Persönlichkeitsstörungen; ich verwende manchmal affektive Störungen als Oberbegriff, so wie umgangssprachlich von einer ängstlichen oder deprimierten Stimmung die Rede ist.) Das Konzept der Doppeldiagnose und Komorbidität – das gleichzeitige Vorliegen von zwei oder mehr Krankheitsbildern oder Morbiditäten, wovon eine als Grunderkrankung betrachtet wird und die andere(n) als zusätzliche oder sekundäre Erkrankung(en) – ist für Behandlung wie Forschung von zentraler Bedeutung. Aber die Nomenklatur »Doppel-« und »Ko-« kann auch irreführend sein. Sie impliziert entweder, dass die Sucht und dieaffektive Störung einen gemeinsamen Ursprung haben (das wird auch bei Behandlungsprotokollen unterstellt) oder dass sie ohne
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