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Das Ende meiner Sucht

Das Ende meiner Sucht

Titel: Das Ende meiner Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Olivier Ameisen
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bereits nach Palästina ausgewandert, und Samuel kaufte Land dort. Aber seine Frau Anna wollte ihre vertraute Umgebung nicht verlassen. Wie so viele andere konnte sie einfach nicht glauben, dass es den Juden in Polen bald ebenso ergehen könnte wie den Juden in anderen Ländern.
    Meine Mutter legte ihre typische Willensstärke an den Tag und organisierte Visa für Argentinien für ihre Eltern, sie selbst und ihren jüngeren Bruder Zev. Aber meine Großmutter weigerte sich nach wie vor zu gehen und beharrte darauf, alles werde gut werden. Kurz darauf war die Flucht nicht mehr möglich. Meine Mutter und ihre Familie überlebten erst die Bombardierung von Warschau und wurden dann im Getto von Krakau von den Deutschen festgenommen und in das Konzentrationslager Plaszow verschleppt, wo sie meinen damals zwölfjährigen Cousin Steve Israeler vorfanden. Er hatte kurz vor der Verhaftung mit angesehen, wie seine Eltern und fünf Geschwister von den Deutschen umgebracht wurden. Bald nach der Ankunft im Konzentrationslager wurde die Familie auseinandergerissen. Mein Großvater kam nach Mauthausen. Beim Abschied sagte er zu meiner Mutter: »Ich werde nicht überleben, aber du und deine Mutter und dein Bruder, ihr müsst überleben.«
    Meine Mutter überlebte Auschwitz-Birkenau. Meine Großmutter verließ das Lager Skarz•ysko mit einer gebrochenen Hüfte infolge von Schlägen. Mein Cousin Steve überlebte Flossenbürg, und auch mein Onkel Zev überlebte: Sein Name stand auf Schindlers Liste.
    Meine Mutter, ihr Bruder, ihre Mutter und Steve schlugen sichnach Paris durch – und auf der Suche nach Hilfe nahmen sie Kontakt zu ihrer entfernten Verwandten Helena Rubinstein auf.
    Nicht lange danach heirateten meine Eltern. Ungefähr zur selben Zeit emigrierten mein Onkel Zev und mein Cousin Steve nach Amerika. Am 22. Dezember 1951 wurde mein älterer Bruder Jean-Claude geboren, eineinhalb Jahre später, am 25. Juni 1953, kam ich zur Welt und am 8. September 1957 unsere Schwester Eva.
    Meine Geschwister und ich hatten die Zuneigung und das Vertrauen zwischen unserem attraktiven, athletischen Vater und unserer schönen Mutter vor Augen, und so schien das Schicksal unserer Familie ein glückliches Ende gefunden zu haben. Tatsächlich erzählte mein Vater uns nie traurige Geschichten. Wenn er von schrecklichen Nachtmärschen in Regen und Dreck berichtete, dem zufälligen Sterben auf dem Schlachtfeld und dem Leben als Kriegsgefangener, bekam sein Tonfall zwar eine besondere Intensität, aber in unseren Ohren klangen seine Erzählungen immer wie Episoden aus einem Abenteuerroman. Er unterhielt uns mit seiner Schilderung, wie er sich selbst das Akkordeonspielen beigebracht hatte und damit dem Kartoffelschälen entgangen war, weil die anderen Gefangenen und auch die Wärter ihn so gern spielen hörten.
    Nach außen hin wirkte auch meine Mutter ruhig und gelassen. In den 1990er Jahren ließ sie sich für das Archiv der Survivors of the Shoah Visual History Foundation interviewen, die Steven Spielberg gründete, nachdem er Schindlers Liste gedreht hatte. In der Videoaufzeichnung sagt sie nicht viel mehr als: »Die Deutschen waren ziemlich grob. Sie hätten höflicher sein können.«
    Doch als meine Geschwister und ich noch klein waren, redete sie ganz anders mit uns. Schluchzend vor Kummer und Wut erzählte sie die entsetzlichen Szenen, die ihre Familie miterlebt und erduldet hatte. Es tat mir in tiefster Seele weh, wenn sie klagte: »Die Deutschen haben meinen Vater ermordet« oder beschrieb, wie sie davon geträumt hatte, Apfelsinen zu essen, und dann aufwachte und sich erinnerte, dass sie in Auschwitz war.
    Immer wieder sprach sie von der Angst, niemand würde sich mehr daran erinnern, was geschehen war, wenn die Überlebenden tot waren, und niemand würde es mehr glauben. Als Erwachsener fragte ich sie, ob sie jemals daran gedacht habe, mit einem Psychiater über das Erlebte zu reden. Sie sagte, sie habe einmal einen jungen jüdischen Psychiater aufgesucht. Ihm habe sie erzählt, dass sie gesehen habe, wie deutsche Soldaten Kinder lebendig in Stücke rissen, und sein Kommentar sei lediglich gewesen: »Sie haben eine blühende Fantasie.« Das war für lange Zeit ihre einzige Begegnung mit einem Psychiater, erst später gab es weitere, als sie hoffte, Psychiater könnten mich vom Alkohol befreien.
    Man hat immer wieder behauptet, Kinder von Holocaust-Überlebenden hätten aufgrund der Atmosphäre, in der sie aufgewachsen sind, ein erhöhtes

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