Das Ende
hoch aufflackerndes Feuer. Die Reste eines Vinyl-Transparents hingen über der Bühne des Amphitheaters. Die ursprüngliche Aufschrift DIE STADT NEW YORK PRÄSENTIERT DISNEY ON ICE war bewusst so zerstört worden, dass jetzt nur noch zu lesen war:
DIE STADT DIS
Auf einer Decke auf dem Felsen waren die Silhouetten dreier Frauen zu erkennen, die mit dem Rücken zu dem knisternden, wärmenden Feuer saßen. Jede von ihnen trug eine schwarze Robe, die sie sich offensichtlich aus den Vorräten eines Bezirksrichters besorgt hatte.
Die links sitzende Furie war Jamie Megaera. Sie war einen Meter fünfundfünfzig groß, hatte eine Oberweite von über sechsundneunzig Zentimetern und Körbchengröße D. Die fünfundzwanzig Jahre alte alleinerziehende Mutter hatte drei Jahre zuvor das Sorgerecht für ihre Tochter aufgegeben, um im Big Apple Karriere als Schauspielerin zu machen. Die Aktion, die in ihrem Leben einem Auftritt auf der Bühne am nächsten kam, bestand darin, dass sie nackt in einem Käfig tanzte, der im Stripclub, in dem sie arbeitete, von der Decke hing.
Jamies eineiige Zwillingsschwester Terry Alecto saß auf der rechten Seite. Als Edelprostituierte verdiente Terry dreimal so viel wie ihre Schwester; ihr übliches Honorar betrug fünftausend Dollar. Wie Jamie lebte auch sie von ihrer Familie getrennt: Ihr Mann verbüßte eine neunjährige Haftstrafe wegen Förderung der Prostitution seiner Frau (Terry war noch minderjährig gewesen, als man ihren Mann festgenommen hatte). Sie selbst hatte keine Vorbehalte gegen ihre Arbeit, im Gegenteil. Terry betrachtete ihre Tätigkeit als Dienstleistung, nicht anders als das, was eine Friseurin oder eine Nagelpflegerin tat. Seit sie die ersten Beulen an ihrem Hals entdeckt hatte, hatte sie schon dreimal mit jemandem geschlafen.
Zwischen den beiden saß die fünfundsechzig Jahre alte Patricia Demeule-Ross Tisiphone.
Patricia war das Kind von Alkoholikern. Sie hatte mit siebzehn geheiratet und es neununddreißig Jahre lang nicht geschafft, sich aus einer kranken Beziehung zu lösen. Nach dem Selbstmord ihres Mannes war ihre Tochter von Schmerztabletten abhängig geworden. Ihre Schwester und beste Freundin Marion war bei ihr eingezogen, nachdem Patricia sich endlich von ihrem alkoholsüchtigen Mann hatte scheiden lassen, der sie körperlich missbraucht
und verbal gedemütigt hatte, seit sie zwanzig war. Die beiden älteren Frauen hatten eine Wohnung an die Zwillinge untervermietet und die jungen Mädchen gewissermaßen als ihre Enkelinnen adoptiert.
Um drei Uhr nachmittags hatten sie sich alle mit der Pest angesteckt.
Zitternd vor Fieber, von schmerzhaften Beulen geplagt und Blut hustend hatten sich die vier in den Central Park geschleppt, um dort »in Frieden mit der Natur« zu sterben. Mit Marion war es zuerst zu Ende gegangen. Sie erlag der Seuche an der Stelle im Park, die sie immer am liebsten gehabt hatte: vor der Statue des »Engels der Wasser« der Bethesda Fountain.
Patricia und die Zwillinge lagen sterbend neben ihr. Alle drei hielten einander bei den Händen. Sie zitterten vor Kälte und Schmerzen, doch nicht vor Angst.
Aus sicherer Entfernung hatte Pastor Jeramie Wright bereits die Sterbesakramente erteilt, als der ehemalige Biker sah, wie sich eine ganz in Weiß gekleidete Frau den – wie man es früher wohl genannt hätte – gefallenen Mädchen näherte. Die Fremde kniete nieder und küsste die drei infizierten Frauen direkt auf den offenen Mund und ließ sie (so schien es jedenfalls) ihren Geist einatmen.
Die Frauen, die eben noch im Sterben gelegen hatten, setzten sich nach wenigen Minuten bereits auf. Wie neugeboren.
Pastor Wright, der Zeuge eines Wunders geworden war, näherte sich der Frau in Weiß. »Wer sind Sie? Wie heißen Sie?«
»Ich bin die Jungfrau Maria. Das Jesuskind ist euch geboren. Rufe deine Schäfchen zusammen heute Nacht, denn das Jüngste Gericht ist angebrochen.«
Rasch hatte sich die Nachricht vom Wunder der Jungfrau verbreitet. Bei Einbruch der Nacht brachen Zehntausende verängstigte und verwirrte New Yorker in den Central Park auf, um Erlösung zu finden.
» Jeder von euch wird sich vor den Furien verbeugen, sodass sie euren Platz bei der Auffahrt gen Himmel bestimmen können. Du … sag mir deinen Namen und deinen Beruf.«
Eine große Frau mit Wespentaille senkte den Kopf. »Linda Bohm. Ich bin aus Kalifornien zu Besuch gekommen. Ich arbeite als eine der stellvertretenden Einkaufsleiterinnen bei Barnes and Noble
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