Das Ende
Toten.
Der Sensenmann starrte Shep an. Die beiden runden Höhlen in seinem Schädel füllten sich mit Dutzenden zuckender Augäpfel. Das an den Nerven zerrende Bild ähnelte einer Honigwabe, auf der zahllose Bienen durcheinanderwimmelten. Der Todeshändler richtete die olivfarbene Klinge seiner Sense auf den Rinnstein.
Die überflutete Abzugsöffnung weitete sich zu einem mächtigen Erdloch. Schmutziges Wasser wirbelte durch die ovale Öffnung wie in einen breiten Abwasserkanal. Das Loch hatte bereits einen Durchmesser von sechs Metern und wurde immer größer. Benzinpfützen flammten auf und erfüllten die unterirdischen Tiefen mit einem flackernden, orangefarbenen Glanz.
Der Sensenmann deutete mit seinem knochigen Zeigefinger auf die Öffnung in der Erde und befahl Shep wortlos, in den Abgrund zu blicken.
Patrick weigerte sich.
Der Todesengel hob seine Sense und stieß das stumpfe Ende des Stabes auf den überfluteten Bürgersteig. Der Stoß ließ die Erde erzittern und setzte eine Kaskade von Wellen frei, die sich ringförmig über die 68 th Street ausbreiteten.
Shep sah sich um. Paolo, Francesca, Virgil und die Patels standen regungslos da wie Statuen. Es war, als existierten sie in einer anderen Dimension. Das ist nur der Impfstoff. Das ist nur eine weitere Halluzination.
Er trat an den Rand der Grube. Bis zu den Knien im Wasser stehend, stemmte er sich mit seinen Oberschenkelmuskeln gegen den Sog der eisigen Strömung und sah in die Tiefe.
»Oh Gott, nein. Nein!«
Patrick Shepherd sah direkt in die Hölle.
Battery Park City, Manhattan, New York
5:27 Uhr
Die Stone Street war eine schmale, mit alten Steinen gepflasterte Gasse im Battery Park. Bei fast allen Gebäuden, die die Straße säumten, befanden sich im Erdgeschoss beliebte Restaurants. Vor siebzehn Stunden hatten Einheimische und Touristen ihr Mittagessen in Adrienne’s Pizzeria bestellt und bei Financier’s Pastries Desserts gekauft. Fünf Stunden später waren sie in die Stone Street Tavern geströmt, denn der Pub war einer der vielen öffentlichen Rückzugsorte für Fremde, die nirgendwo anders hingehen konnten, wenn sie sich an die Ausgangssperre halten wollten.
Um sieben Uhr abends hatte sich die Stone Street in eine einzige Partymeile verwandelt. Musik dröhnte aus batteriebetriebenen CD-Playern. Die Einstellung, dass alles möglich ist, wenn die Welt untergeht, brachte Frauen und Männer zusammen, die sich gerade erst getroffen hatten, und machte aus Autorücksitzen improvisierte Schlafzimmer.
Familien mit kleinen Kindern verließen die Stone Street und begaben sich auf eine Pilgerreise den Broadway hinauf in Richtung Trinity Church.
Um zehn hörte die Musik auf. Um halb elf wurden die Betrunkenen gewalttätig.
Es kam zu Schlägereien. Fenster wurden eingeworfen, Geschäfte verwüstet. Frauen wurden Opfer von Massenvergewaltigungen. Es gab keine Polizei, kein Gesetz. Nur Gewalt.
Um Mitternacht hatte Scythe angesichts dieser Orgie für seine eigene Version von Gerechtigkeit gesorgt.
Inzwischen waren seit Anbruch des gefürchteten 21. Dezember fünfeinhalb Stunden vergangen, und die Wintersonnenwende hatte die Stone Street in ein europäisches Dorf aus dem 14. Jahrhundert verwandelt.
Außer dem orangefarbenen Schimmer der in Blechmülleimern brennenden Feuer gab es kein Licht. Die am Himmel wirbelnden schlammfarbenen Wolken boten einen geradezu surrealen Anblick. Überall in den kopfsteingepflasterten Straßen und Gassen lagen Tote und Sterbende. Tauender Schnee umspülte die Körper, tauendes Blut, das aus den Nasen und Mündern rann, lockte die Ratten an.
Es gab sechzigmal mehr Ratten als Tote und Sterbende. Die Tiere waren von Flöhen befallen, die Scythe in sich trugen. Sie stürzten sich in kannibalistischen Rudeln auf die am Boden Liegenden, und ihre scharfen Zähne und die scharrenden Klauen rissen große Fleischfetzen aus den Körpern. Jede Mahlzeit war heftig umkämpft, jeder Streit der Tiere untereinander wurde zu einer blutigen Raserei.
Langsam rollte der schwarze Chevy Suburban in die Stone Street. Während der letzten fünf Stunden hatte Bertrand DeBorns Fahrer sich durch endlose Avenues voller aufgegebener Autos gefädelt, sich an zahllosen Fahrzeugen vorbeigequetscht und andere beiseitegedrückt, sodass der Chevy kaum zehn Kilometer pro Stunde geschafft hatte. Weil auch die Stone Street verstopft war, lenkte Ernest Lozano den Wagen auf den Bürgersteig, wo seine dicken Reifen über menschliche Bodenwellen
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