Das Ende
den Rand eines Steines in der Nähe, der sich so sehr aufgeheizt hatte, dass sie es selbst durch ihre Denim-Shorts hindurch kaum aushalten konnte.
Wenige Augenblicke später fühlte sie die weibliche Präsenz ihres Schutzengels zu ihrer Linken – und die plötzliche Kühle, die die dunklere männliche Kraft zu ihrer Rechten ausströmte. »Ihr beide wurdet am gleichen Tag geboren. Ich finde das so romantisch.«
Dawns Kopfhaut kribbelte, als das übernatürliche weibliche Wesen ihr spielerisch das Haar zerzauste.
Der düstere Schnitter blieb halb im Schatten einer Eiche verborgen.
»Bald fängt die Schule wieder an. Es heißt, dass einige Klassen zusammengelegt werden, bis wieder mehr Leute in die Stadt kommen.«
In der Ferne grollte der Donner. Bizarre Formen erschienen am westlichen Himmel. Die tief hängenden Wolken wogten auf und nieder wie zwölf Meter hohe Wellen, und der Horizont schimmerte limonengrün.
»Ach ja, erinnerst du dich noch an das Wunderbaby, das Neugeborene, das in einem Brutkasten im VA Hospital gefunden wurde? Das Mädchen ist endlich adoptiert worden, aber niemand sagt einem, wer die neuen Eltern sind. Angeblich war es ihre Mutter, die Scythe freigesetzt hat. Mein Gott, kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn so etwas ständig über einem hängt?«
Die höchsten Blätter der Eiche wurden vom Wind nach oben geweht – ein untrügliches Zeichen für das kurz bevorstehende nachmittägliche Gewitter.
»Aber sei’s drum. Ich wollte eigentlich nur vorbeikommen, um euch alles Gute zum Geburtstag zu wünschen. Und jetzt sollte ich schon gleich wieder los. Meine Mutter glaubt, dass ich mir bei Minos ein Stück Pizza hole. Übrigens, weißt du, dass das Baby nach dir benannt wurde? Patrick Lennon Minos. Ich finde das ziemlich cool.«
Die Atmosphäre änderte sich und war plötzlich von Elektrizität erfüllt. Hinter dem Mädchen war die Ladung besonders stark, doch bevor Dawn sich der Störungsquelle zuwenden konnte, riss der weibliche Geist sie von ihrem Platz am Grab weg – nur Sekundenbruchteile, bevor die sich materialisierende Sensenklinge auf den jetzt leeren Stein niederkrachte.
Kaum hatte sich Dawn wieder gefasst, sah sie von Grauen erfüllt, wie die Hexe aus einem mit eisernen Gittertoren verschlossenen Mausoleum heraus auf sie zustürmte. Die Schnitterin trug eine gewellte schwarze Perücke und ein dazu passendes Satinkleid. Die höllische Macht griff mit ihren zehn fleischlosen Fingern nach ihr, doch ihr männliches Gegenstück sprang ihr entgegen.
Als die beiden Wächter des Todes mitten in der Luft gegeneinanderprallten, entstand ein violetter Lichtblitz, der von der Erde in den Himmel schoss und die jahrhundertealte Eiche in zwei Teile spaltete.
Die aus einem außerweltlichen Reich stammende Energie riss die beiden Gestalten in eine andere Dimension.
Dawns spirituelle Begleiterin drängte und schob das Mädchen die Ostseite des Hügels hinab und weigerte
sich, stehen zu bleiben, bis die beiden den Broadway erreicht hatten.
Dann verschwand auch sie.
Während sie heftig in der Augustsonne schwitzend auf dem Bürgersteig stand, versuchte das Mädchen sich zu beruhigen. Über ihr hatte sich die wogende, olivfarbene Wolkenformation aufgelöst.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Dawn Patel allein.
Das Bewusstsein, das einst Patrick Shepherd war, erwacht.
Von Dunkelheit umhüllt, kniet er auf einem flachen, felsigen Berggipfel. Purpurne Blitze erhellen das Tal unter ihm und erlauben ihm kurze Blicke auf die Gehenna . Ein einzelner Funke lässt einen Busch hell orangefarben aufflammen, doch dann strömt aus den dichten Zweigen und Blättern nur schwefeliger Rauch, ohne dass sie zu brennen scheinen.
Eine Frau tritt aus dem Schatten ins Licht … und ihr nackter Körper ist deutlich zu sehen.
Ihre Haut besteht wie menschliche Fingernägel aus Keratin und ist so fahl wie reflektiertes Mondlicht. Ihr langes, gewelltes Haar ist ebenholzfarben wie der Abgrund. Ihr nackter Körper ist das Urbild sexueller Verheißung. Der rohe, würzige Duft ihrer Pheromone erfüllt ihr männliches Gegenüber unwillkürlich mit zuckendem Verlangen.
Sie spricht mit tiefer und beruhigender Stimme. »Heute ist der neunte Av, eine Zeit, in der Bilanz gezogen wird. Gib dich mir zu erkennen.«
Innerhalb von Sekunden umschließen Blutgefäße und Nerven, Sehnen, Muskeln und Haut das Skelett des Sensenmannes, der so die Gestalt Patrick Shepherds annimmt.
»Wer bist du? Warum hast du mich an
Weitere Kostenlose Bücher