Das Engelsgrab
jemand geben muss, der uns eventuell helfen kann.«
»An wen hast du da gedacht?«
»An keine bestimmte Person, Suko. Oder doch, aber an keine namentlich bekannte. Es gibt Menschen, die sich mit der Engelforschung beschäftigt haben oder sich noch beschäftigen. An sie müssten wir doch irgendwie herankommen.«
»Dann mach mal.«
»Ich weiß überhaupt nichts mehr, wenn ich ehrlich sein soll. Hier haben wir nichts mehr verloren. Es wäre besser, wenn wir zurückgehen und bei Toby Cramer bleiben. Der Junge ist die einzige Spur, die wir haben.«
So unrecht hatte er nicht. Ich wollte noch einen letzten Blick auf das alte Grab werfen, als sich Sukos Haltung veränderte und er plötzlich angespannt auf der Stelle stand.
»Was ist?«
»Dreh dich mal um!«
Ich tat es. Vor uns stand eine Frau. Wir hatten sie nicht kommen gehört, aber sie war da, lächelte uns an, bevor sie mit einer glockenhellen Stimme die Worte sprach, die uns schockten.
»Jetzt ist der Engel tot, nicht wahr?« Sie nickte vor sich hin und kam auf uns zu. »Wenn das so weitergeht, wird es bald keine Schutzengel mehr geben…«
***
Suko hatte die Frau ebenso gehört wie ich. Beide hielten wir uns mit einer Bemerkung zurück, denn wir wussten, dass diese Worte nur eine Einleitung gewesen waren. Es würde noch etwas folgen, und diese Fremde war nicht grundlos erschienen.
Sie hatte uns angesprochen. Nur für die Dauer dieser Worte hatte ihre Konzentration uns gegolten. Das war sehr bald vorbei, denn da beschäftigte sie sich wieder mit sich selbst. Sie sah plötzlich so weltfremd aus, nach innen gekehrt. Das übertrug sich auch auf ihre Bewegungen, denn sie ging mit langsamen, irgendwie abwartenden Schritten auf uns zu. Oder auf das Grab, denn uns nahm sie nicht zur Kenntnis.
Vor dem Grab blieb sie stehen und schaute mit gesenktem Kopf dorthin, wo vor kurzem noch der Schutzengel gelegen hatte. Wir hörten sie scharf atmen. Ihre Haltung und auch der Gesichtsausdruck deuteten auf eine gewisse Trauer hin.
Da sich die Frau nicht um uns kümmerte, erhielten wir Gelegenheit, sie genauer anzuschauen. Ich schätzte sie auf Mitte Zwanzig. Braunes Haar umgab in sanften Wellen ihren Kopf. Die Haut war glatt und faltenlos. Sie hatte weiche Gesichtszüge, Augen mit langen Wimpern und wunderschönen, natürlich gewachsenen Brauen. Sie strahlte Ruhe und Sanftheit aus, und mit ihren gefalteten Händen wirkte sie ebenfalls sehr wie ein Engel. Aber sie war ein Mensch. Mit einem verlorenen Lächeln auf den Lippen blieb sie auch in den folgenden Sekunden vor dem Grab stehen, wie jemand, der trauerte.
Suko schaute mich mit dem Kennst-du-sie?-Blick an.
Ich schüttelte den Kopf. Zu sprechen traute ich mich nicht, weil ich die Frau nicht stören wollte. Sie war sehr in sich gekehrt und schaute dabei so intensiv zu Boden, als wollte sie mit ihren Blicken die Tiefe des Grabs durchforschen.
Dass ihr Auftritt kein Zufall war, stand für uns fest. Sie wusste Bescheid, war aber zu spät gekommen, um noch etwas ausrichten zu können. Wir hörten ihr Seufzen, bevor sie sich umdrehte und uns dabei ins Gesicht schaute. Ein verlorenes Lächeln lag dabei auf ihren Lippen.
Der Blick wirkte verhangen, als sähe sie etwas, was ausschließlich ihr bekannt war.
Noch eine Weile stand sie wie verloren da, dann durchlief ein Ruck ihre Gestalt. Jetzt sah sie aus, als wäre sie aus ihrer Welt in die Wirklichkeit zurückgekehrt.
»Habe ich recht?« fragte sie.
»Womit?«
»Dass der Engel tot ist.«
»Leider«, bestätigte ich. »Allerdings fällt mir wieder ein, dass Sie noch etwas hinzugefügt haben, Madam.«
»Ja, ich sprach von Schutzengeln, auf die Jagd gemacht wird. Ein großer Plan soll sich erfüllen, und ich befürchte, dass es mir nicht gelingt, ihn zu stoppen.«
Das war immerhin ein Hinweis, den ich mir merkte. Zunächst ging ich nicht darauf ein, sondern fragte die einsame Frau nach ihrem Namen.
»Ich bin Claudine Lanson.«
»Französin?«
»Auch.«
Damit gab ich mich zufrieden, und ich stellte Suko und mich vor.
Danach lächelte sie uns an. »Ja, das habe ich gewusst, mir war klar, dass sich unsere Wege irgendwann einmal kreuzen würden, dazu sind unsere Gebiete einfach zu ähnlich.«
»Interessant«, sagte Suko. »Darf ich fragen, womit Sie sich beschäftigen, Claudine?«
»Ich bin Engelforscherin.«
»Interessant.«
Dieses eine Wort animierte Claudine dazu, ihre Rede fortzusetzen. »Ja, eine Forscherin, die ihre Recherchen so weit getrieben hat, dass sie ein
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