Das Engelsgrab
wenn wir in der Vergangenheit herumsuchen oder uns mit einer Zukunft beschäftigen, die wir nicht kennen. Wir müssen zur Gegenwart zurückkehren, denn die ist wichtig genug.«
»Wie meinen Sie das?«
»Konkret gefragt, Claudine, was hatten Sie hier vor? Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, diesen Friedhof hier zu betreten? Doch nicht aus Lust und Laune - oder?«
»Nein. Ich hatte einen Hinweis.«
»Durch wen?«
»Durch mich.«
Die Antwort war uns suspekt. Dementsprechend schauten Suko und ich uns an und hoben auch wie abgesprochen zur gleichen Zeit die Schultern, denn mit dieser Antwort kamen wir beim besten Willen nicht zurecht.
»Sie möchten, dass ich konkreter darüber rede?«
»Darum bitten wir«, sagte ich.
»Viel gibt es da nicht zu erklären. Ich habe mich mit den Engeln beschäftigt. Ich kenne sie. Ich bin ihnen sehr nahe, und es existiert ein Kontakt zwischen ihnen und mir. Ich konnte ihre Angst spüren, denn sie wussten, dass ein Mächtiger Jagd auf sie machte. Sie brachten mich auf den Engel der Lügen. Durch sie wusste ich, dass Belial unterwegs ist, und es gelang mir, eine Spur aufzunehmen. Sie haben mich in gewisser Hinsicht dazu angeleitet, dem Friedhof hier einen Besuch abzustatten. Möglicherweise wollten sie mir den Ernst der Lage vor Augen führen. Das ist ja leider eingetreten.«
»Ja, stimmt. Nur kamen Sie zu spät.«
»Aber Sie haben ihn gesehen.«
»Leider tot«, sagte ich.
»Dann haben wir wohl hier nichts mehr zu suchen«, fasste Suko zusammen. »Wir sollten uns um Toby kümmern. Ich finde, dies ist am wichtigsten.«
»Fürchten sie, dass Belial den Jungen töten könnte?«
»Ja!«
Nach dieser Antwort wusste Claudine Lanson nicht, was sie noch sagen sollte. »Es macht eigentlich keinen Sinn«, murmelte sie, »denn Belial ist auf der Jagd nach den Schutzengeln. Warum sollte er sich mit den Kindern abgeben wollen?«
»Das müssen wir ihn selbst fragen.«
»Er wird kaum kommen.«
Ich hob die Schultern. »Das bleibt abzuwarten. Es gibt immer wieder Personen, die sich selbst in den Vordergrund stellen müssen. Dazu zähle ich auch Belial.«
»Außerdem stehen wir auf seiner Liste«, sagte Suko.
Claudine schwieg. Sie kannte sich zwar mit Engeln aus, aber einen so direkten Kontakt, wie wir ihn gehabt hatten, auf den musste sie verzichten. »Ich werde nicht mit Ihnen gehen«, sagte sie.
»Bleiben Sie hier?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich habe meine Berufung erhalten. Möglicherweise hat man mich dazu bestimmt, die Schutzengel zu beschützen.« Sie lachte etwas bitter. »Obwohl sich dies fast paradox anhört.«
»Glauben Sie weiterhin, dass dieser Friedhof wichtig ist?« fragte ich noch. »Könnte er zu einem Friedhof der Schutzengel werden? Zu ihrem Massengrab?«
»Ich will es nicht hoffen. Ich weigere mich auch, einen derartigen Gedanken zu führen. Mir wäre am liebsten, wenn sich die Engel zusammenschließen würden, um gegen Belial zu kämpfen. Gemeinsam müssten sie stark genug sein.«
Der Vorschlag war nicht schlecht. Ob er sich jedoch in die Tat umsetzen ließ, stand in den Sternen.
»Wollen Sie das übernehmen?« fragte ich.
»Ich werde es versuchen.«
Es klang wie ein Abschied, wie ein vorläufiger zumindest. Für Suko und mich gab es hier nichts mehr zu tun. Zudem drängte die Zeit, denn der Tag neigte sich dem Ende zu. Es war noch schwüler geworden. Der Himmel war dunkelgrau. Hoch über unseren Köpfen ballten sich die Wolken. An ihren Rändern zeigten sie hellere Flecken, denn dahinter lag das Licht der immer tiefer sinkenden Sonne, deren Farbe noch kein dichtes Rot zeigte. Wind wehte nicht. Der Friedhof lag eingehüllt in tiefes Schweigen. Wie viele Menschen auch wartete er auf das mächtige Gewitter, das unweigerlich folgen würde.
Wir gingen über das alte Gelände. Irgendwo dachte jeder von uns an Belial und an sein plötzliches Erscheinen. Claudine hatte davon gesprochen, ihn riechen zu können. So weit waren wir leider noch nicht.
Als wir unseren Rover erreicht hatten, schaute Suko mich an und fragte:
»Was hältst du von ihr?«
»Sie ist zumindest eine ungewöhnliche Frau.«
»Stimmt. Aber traust du ihr?«
»Du nicht?«
»Ich weiß es nicht. Große Angst scheint sie ja nicht zu haben. Wir hätten sie doch sicherheitshalber mitnehmen sollen.«
»Gegen ihren Willen?« Ich schüttelte den Kopf. »Menschen wie Claudine Lanson fühlen sich immer zu etwas Höherem berufen. Sie haben eine Aufgabe, und sie gehen darin auf. Jedenfalls hat sie es
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