Das Engelsgrab
beschäftigt. Ich kenne sie wohl. Ansonsten sind sie für ich nichts anderes als Märchenwesen. Na ja«, berichtigte sie sich selbst. »Auch sehr gläubige Menschen glauben an Engel.« Sie zeichnete die Gestalten mit den Händen nach. »Schöne Wesen mit großen Flügeln auf dem Rücken. So hat man sie sich doch vorzustellen - oder?«
Ich gab die Antwort. »Das sagen die Menschen. Möglicherweise haben sie die Engel nach ihrer Phantasie geschaffen. Engel sind ja Boten, und Boten müssen schnell sein. Deshalb auch die Flügel.«
»Ahhh - so ist das.« Lilian lächelte etwas verlegen, bevor sie ein anderes Thema anschnitt, mit dem sie besser zurechtkam. »Ich werde mal nach Toby schauen. Er war vorhin schon ziemlich müde. Es wäre für ihn besser, wenn er sich hinlegt. Selbst bei diesem Wetter wird er tief und fest schlafen können.«
Sie verließ uns, und wir hörten sie wenig später in der kleinen Küche mit Toby sprechen.
Suko seufzte und fragte: »Ob es wohl richtig ist, dass wir hier bei Lilian Cramer sitzen und warten?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Nun ja, ich dachte da mehr an den Friedhof. Vielleicht wären wir dort besser aufgehoben.«
Da hatte ich meine Zweifel. »Mag sein, nur befürchte ich, dass der Junge noch nicht aus der Gefahrenzone heraus ist. Irgendwo sehe ich ihn als ein Opfer an. Sein Verhalten kommt mir seltsam vor. Er ist auf den Spielplatz gegangen, obwohl seine Mutter ihn gebeten hat, in der Wohnung zu bleiben. Da hat er sich mit seinen Freund getroffen. Alles nichts Ungewöhnliches. In diesem Fall allerdings schon, wo die Dinge nicht mehr so normal laufen. Kann sein, dass ich die Dinge zu negativ sehe, aber ich habe meine Bedenken.«
»Dann können wir davon ausgehen, dass die andere Seite Toby noch nicht aufgegeben hat.«
»Genau. Er wird sich hinlegen. Er ist müde. Er wird schlafen. Wir haben Vollmond.« Ich deutete zum Fenster. »Eine ideale Ausgangsposition für das Schlafwandeln. Und diesmal wird kein Schutzengel vorhanden sein, der sich um ihn kümmert.«
»Irrtum, John, er hat zwei Schutzengel.«
»Du meinst uns?«
»Wen sonst?«
Ich lächelte. »Dann können wir uns ja noch Flügel anleimen, damit wir auch äußerlich so aussehen.«
Lilian Cramer erschien wieder in der offenen Tür. Ein paar Mal atmete sie tief ein und aus, bevor sie sich über die Wärme im Zimmer beschwerte.
»Was ist mit Ihrem Sohn?« fragte ich.
»Toby wollte schlafen. Er liegt bereits in seinem Bett. Er war sehr müde.«
Ich schaute sie misstrauisch an. »Sehr müde? Ist das bei ihm normal?«
»Ja und nein. An manchen Tagen schon. Heute wundere ich mich darüber, dass er so früh müde geworden ist und ins Bett wollte.«
»Schläft er denn?« fragte Suko.
»Das weiß ich nicht. Ich habe ihn nur zu Bett gebracht. Er sagte mir sehr schnell gute Nacht, und er lächelte dabei, als wäre er froh darüber, mich loszuwerden.«
»Dürfen wir ihn sehen?« erkundigte ich mich.
»Klar, warum nicht? Er liegt in seinem Zimmer. Den Weg kennen Sie ja.«
Die Türen zu den einzelnen Zimmern hatte Lilian Cramer nicht geschlossen. Draußen drückte die Dämmerung bereits gegen die Scheiben, nur in einem Zimmer nicht. Es war das des Jungen, denn dort stand das Fenster der Gaube offen.
Ich achtete nicht auf Toby. Für mich war nur das Fenster von Bedeutung. »Es ist nicht gut, Mrs. Cramer, wenn Sie es offen lassen. Frischere Luft tut zwar jedem von uns gut, aber in diesem Fall…«
»Augenblick mal, Mr. Sinclair. Ich habe das Fenster nicht offengelassen. Es war geschlossen, als ich Tobys Zimmer verließ.«
»Das war ich!« meldete sich der Junge vom Bett her. Er schlief noch nicht und hatte sich aufgesetzt. Mit beinahe schon bösen Blicken schaute er uns an. »Ich will nicht ersticken, Mum. Ich will frischere Luft haben.«
Lilian warf uns einen hilfesuchenden Blick zu. Wir unterstützten sie auch. Ich trat an Tobys Bett. Der Junge schaute mich böse an. Aus dem Flur fiel Licht in den Raum und breitete sich hinter der Schwelle bis zum Bett hin aus. Er wirkte verkrampft, und auch mein Lächeln lockerte die Verkrampfung nicht.
»Wir wollen dir nichts Böses, Toby, wir wollen dich nur beschützen, verstehst du?«
»Nein.«
»Du weißt doch selbst, dass du oft bei Vollmond schlafwandelst. Um dich vor dir selbst zu schützen, haben wir das Fenster geschlossen. Wir möchten nicht, dass du das Dach betrittst und möglicherweise Gefahr läufst, dort abzurutschen. Das ist alles. Kannst du das nicht verstehen,
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