Das Engelsgrab
Toby?«
Er schaute mich starr an. »Nein!« sagte er dann.
»Was ist daran so schlimm?«
»Wenn ich gehen will, dann gehe ich. Ich kann nichts daran ändern. Es ist Vollmond, das weiß meine Mutter auch.«
»Wir werden dich auch nicht daran hindern«, erklärte ich. »Da brauchst du keine Sorgen zu haben, aber wir möchten dich davor beschützen, das Dach zu betreten.«
Er nickte. »Es ist gut!«
»Und das Fenster bleibt geschlossen!« sagte ich.
»Hau jetzt ab!«
Der Junge war sauer auf mich. Er hatte seinen Kopf zur Seite gedreht, um mich nicht ansehen zu müssen. Ich sah ihn im Profil. Sein Mund zuckte einige Male, und er strich unruhig mit den Händen über die Bettdecke hinweg. Dann warf er sich zurück, drehte sich dabei auf den Bauch und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen, nur um mich nicht sehen zu müssen.
Ich entfernte mich von seinem Bett. Dabei strich ich mit den Haaren gegen die von der Decke hängenden Hubschrauber, die sich bewegten und leicht zusammenstießen. »Ihr Sohn scheint etwas gegen mich zu haben, Mrs. Cramer.«
Lilian wirkte hilflos. »Er benimmt sich schon etwas seltsam, das gebe ich zu.«
»Vielleicht können Sie ihm ja zureden. Suko und ich werden das Zimmer besser verlassen.«
»Wie Sie wollen.«
Erst im Wohnzimmer sprachen wir wieder miteinander. Es war ziemlich dunkel geworden, und ich schaltete eine Wandleuchte ein. Der Schein reichte uns aus. »Er hat sich verändert, Suko. Zumindest mir gegenüber. Seine Aggressivität war zu spüren. Die wehte wie ein Strom gegen mich. Ich will nicht von Hass sprechen, aber seine Ablehnung habe ich stark gespürt.«
»Dann hat er sich rasch verändert.«
»Eben. In sehr kurzer Zeit.«
»Womit hängt das zusammen? Vielleicht mit dem Besuch auf diesem Spielplatz?«
»Das habe ich mich auch gefragt«, sagte ich. »Es könnte der Fall gewesen sein. Er kann dort durchaus etwas erlebt haben, das prägend für ihn gewesen ist. Ein Treffen.«
»Mit wem?«
»Hoffentlich nicht mit Belial«, flüsterte ich.
»Er sprach von Ricky, seinem Freund. Aber was kann man da schon glauben?«
Wir wussten die Antwort beide nicht. Eines allerdings war eine Tatsache. Der Vollmond stand am Himmel. Ich hatte ihn gesehen, als ich durch Tobys Zimmerfenster geschaut hatte. Er war nicht unbedingt klar und deutlich zu erkennen, eher verschwommen, als traute er sich nicht aus seinem Versteck hervor, aber die Kraft, die in ihm steckte, die würde auch Toby zu spüren bekommen, der besonders dafür empfänglich war.
Auch Lilian Cramer konnte sich nur wundern. Sie ließ sich in einen Sessel fallen, nachdem sie zu uns gekommen war und ein Fenster geöffnet hatte. »So habe ich meinen Toby selten erlebt«, murmelte sie und schüttelte den Kopf. »Der war zu Ihnen schon richtig frech. Dabei ist er sonst ein lieber Junge.« Sie starrte durch das Fenster in die immer stärker werdende Dunkelheit. »Ich muss mich für Toby entschuldigen.«
»Um Himmels willen, das brauchen Sie nicht, Mrs. Cramer. Es ist alles okay.«
Sie drehte mir den Kopf zu. »Aber nicht mit Toby. Das kann ich als Mutter behaupten. So habe ich ihn selten erlebt. Er ist mir plötzlich fremd geworden. Ich hatte nicht mehr das Gefühl, dass Toby mein Sohn ist.«
»Wann war das?«
»Vor kurzem, als Sie bereits sein Zimmer verlassen hatten. Ich wollte noch einmal mit ihm reden, um gewisse Dinge klarzustellen und auch Verständnis bei ihm zu wecken, aber er reagierte nicht. Ich kam mir so fremd vor, und auch Toby ist mir fremd gewesen. Als wäre er nicht mehr mein richtiger Sohn.«, sie suchte nach den entsprechenden Worten. »Wie jemand, der zwar äußerlich noch so aussieht, im Innern aber fremd geworden ist.«
»So etwas kann es geben, Mrs. Cramer.«
»Das sagen Sie so leicht, Mr. Sinclair. Können Sie mir auch einen Grund nennen?«
»Nein, noch nicht. Wenn ich etwas sagen würde, wäre das mehr eine Spekulation.«
»Die Sie mir nicht antun wollen, wie?«
»So können sie es auch nicht sagen. Wir alle wissen einfach noch zuwenig, um jetzt schon Schlüsse ziehen zu können. So simpel es sich anhört, wir müssen wirklich abwarten, bis etwas passiert oder bis Toby reagiert.«
»Also schlafwandelt?«
»Ja.«
»Das Fenster ist geschlossen.«
»Sehr gut. Nur wird es für Toby kein Hindernis sein. Er wird es öffnen. Ich denke schon, dass er die Kraft dazu hat. Damit meine ich mehr die innerliche oder Kraft dessen, der ihn führt. Ihr Sohn ist eben kein gewöhnlicher Junge, Mrs. Cramer. Damit
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