Das Engelsgrab
nach rechts gegangen. Er stand auf der Schräge und hatte sein Gewicht nach rechts verlagert, den Kopf allerdings so gedreht, um einen Blick gegen den First werfen zu können.
Ich fragte mich, ob wir etwas fälsch gemacht hatten. Vielleicht hätten wir ihn zuvor wecken sollen. Wir hatten nicht bedacht, mit welcher Konsequenz Toby vorgehen würde, denn er hatte ja nicht einmal eine halbe Stunde geschlafen.
Ich kletterte ihm nach. Es war jetzt gefährlich, den Jungen anzusprechen. Er durfte sich nicht erschrecken. Das konnte für ihn tödlich werden. Ein Abrutschen auf den Dachpfannen war dann wie ein Gleiten hinein ins Nichts.
Hinter mir redete Suko mit Tobys Mutter. Er flüsterte ihr die Worte zu und bat sie inständig, sich zurückzuhalten.
Nach unten schaute ich nicht. Mein Blick richtete sich gegen den Himmel. Es war wirklich wie bestellt. An einer Stelle zeigte die Wolkenbank eine Lücke. Genau in diesem Spalt stand der Mond. Nicht mehr so bleich. Seine Farbe wirkte richtig fett. Wie ein heimlicher Beobachter schaute er auf den Jungen nieder, der nicht mehr warten wollte und sich weiterbewegte. Sehr geduckt, die Arme nach vorn gestreckt, damit er mit seinen Händen auf den Dachpfannen Halt finden konnte.
Er schaute sich nicht um. Sein Ziel war der First.
Für Suko und mich gab es eigentlich nur eine Chance. Wir mussten ihn zu fassen bekommen, bevor er den Dachfirst erreichte, sich dort aufrichtete und auf ihm balancierte.
Ich drehte den Kopf. Suko hatte mich beinahe erreicht. Er deutete auf Toby, und ich nickte. Noch war der Junge weit genug vom First entfernt. Das aber änderte sich mit jeder verstreichenden Sekunde. Er bewegte sich nicht so selbstvergessen wie ein Mondsüchtiger. Was er tat, das sah schon ziemlich gezielt aus.
Wir holten auf. Unsere Schritte waren länger. Suko war schon an mir vorbeigeglitten, aber beide erwischte es uns wie ein Schlag in die Magengrube.
Plötzlich war jemand da.
Ein großer Schatten, der sich vom Himmel herab hatte fallen lassen.
Zuerst hatte er gewirkt wie ein Stück Wolke, das aus dem Verbund hervorgerissen war, das aber war er nicht.
Der Schatten landete auf dem First. Er nahm Gestalt an.
Plötzlich stockte uns der Atem. Wir kannten den Schatten und damit auch sein düsteres und drohendes Outfit. Dieser Schatten war kein Mensch, sondern derjenige, der sich zu Luzifer hingezogen fühlte.
Es war Belial!
Zum Greifen nahe stand er vor dem Jungen und hatte ihm sogar die Hand entgegengestreckt. Er hielt sich auf dem First auf, während sich Toby noch auf der Schräge befand. Beide kommunizierten nur durch Blicke miteinander, und auch uns fehlten die Worte.
Belial zeigte sich in all seiner Scheußlichkeit. Er trug keine Kleidung.
Sein nackter Körper sah aus wie in Asche getaucht, wobei er sich zum Kopf hin erhellte. Um sein Gesicht wehten die ebenfalls wie Asche wirkenden Haare. Augen lagen tief in den Höhlen. Der Ausdruck des Gesichts wirkte eingefallen. Er war nicht einmal besonders kräftig und keinesfalls mit einem dieser Muskelmänner aus einem Fantasy-Film zu vergleichen. Er sah aus wie ein Engel.
Nur war er der Todesengel. Der Engel der Finsternis und der Lügen.
Luzifer selbst hätte sich keinen besseren Herrscher wünschen können.
Über seine Schultern hinweg wuchsen die Enden der Flügel wie schwarze, starre Schatten. Er hatte sich den Vorstellungen der Menschen angeglichen, doch das war jetzt nicht wichtig.
Wir mussten ihn stoppen. Er wollte den Jungen, aber unsere Lage war nicht die beste. Beide hielten wir uns geduckt und schräg stehend auf dem Dach auf. Toby drehte uns den Rücken zu. Er schaute sich auch nicht um. Sein Blick galt einzig und allein dem Lügenengel, der ihm auch weiterhin auffordernd die Hand entgegenstreckte.
Toby ging weiter. Noch zwei Schritte höchstens, dann konnte Belial zugreifen. Das Kreuz würde ihn stoppen. Leider musste ich es erst hervorholen, es aktivieren oder ihn selbst zu einer Lüge überführen, was ungleich schwieriger war.
Suko hatte es da einfacher. Und er tat genau das Richtige in dieser Situation. Er hatte seinen Stab berührt und rief nur das eine Wort.
»Topar!«
Von nun an musste Suko allein handeln. Ich stand unter dem Bann der anderen Magie und konnte mich ebenso wenig bewegen wie Toby.
Selbst der Lügenengel rührte sich nicht. Keine Veränderung der Haltung. Wir waren wie eingefroren.
Bis auf Suko.
Fünf Sekunden nur. Eine verflucht kurze Zeitspanne, um etwas zu retten. Das war auch Suko
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