Das Engelsgrab
sich der Zustand. Für sie war der Wind nicht mehr das warme und vertrauensvolle Streicheln, mit dem ihr Körper liebkost wurde. Er fühlte sich anders auf der Haut an. Viel schärfer, beinahe schon eisig.
Öfter als gewöhnlich schauderte die junge Frau zusammen. Auf ihrem Gesicht malte sich ebenfalls die Spannung ab. Ihre Schritte waren schwerer geworden. Längst glitt sie nicht mehr so leicht über die schmalen Pfade hinweg, um es den Engeln nachzutun.
Die Bäume, das Unkraut, die Sträucher, eigentlich die gesamte Natur auf diesem Gelände schien die Schatten des Himmels aufsaugen zu wollen. Sie sahen für Claudine viel düsterer aus als in den anderen Nächten. Sie hatte sich oft so wohl gefühlt wie jemand im Paradies.
Ganz für sich hatte Claudine deshalb den Friedhof als Garten Eden getauft, was ja soviel wie Paradies bedeutete.
Hatte sie vorhin noch gelächelt, so war dieses Lächeln völlig verschwunden. Claudine kam sich gehetzt vor. Unsichtbare Gestalten durchflossen das Gelände und waren hinter ihr her, um sie zu jagen.
Sie ging nicht mehr weiter, als sie ein altes und vergessenes Wasserbecken erreicht hatte. Es bestand aus dicken Mauern, die eine Oberfläche bildeten, breit wie ein Sims. Deshalb hatte auf der Rückseite des Beckens eine Figur ihren Platz finden können. Es war ein Engel aus Stein, der seinen Kopf gesenkt hielt und den Mund weit geöffnet hatte.
In früheren Zeiten war daraus das Wasser in das Becken geflossen, doch diese Quelle war längst versiegt. Auch hatte sich das Unkraut am Gestein in die Höhe schieben können und war sogar über den Rand hinweggewachsen.
Claudine stützte ihre Hand auf den Sims. Sie ärgerte sich selbst darüber, dass sie außer Atem geraten war. Auch die Beschaffenheit ihrer Haut musste sich verändert haben, denn sie nahm die Gerüche ihres eigenen Parfüms viel intensiver wahr.
Etwas lauerte nicht weit entfernt. Jemand wollte sie unter Kontrolle bringen. So vorsichtig wie möglich suchte die Frau ihre nähere Umgebung mit den Blicken ab. Es war sehr schwer für sie, überhaupt etwas zu sehen. In diesem immer dämmriger werdenden Licht gab es keine festen Umrisse oder Konturen mehr. Hier floss alles ineinander, und es wirkte manchmal so, als befände sich die Umgebung in ständiger Bewegung, ohne dabei großartig zu wechseln.
Wenn sich jemand verstecken wollte, dann fand er hier die besten Gegebenheiten.
Claudines Hände waren nass geworden. Der Schweiß klebte auf den Innenflächen. Sie überlegte, ob sie ein Gebet an die Engel sprechen sollte. Eine Fürbitte, die ihr Schutz geben sollte. Vielleicht an die Seraphime, die lichtspendenden Kräfte, damit die Dunkelheit erleuchtet wurde. Oder an die Cherubim, die mit der Kraft der Allwissenheit ausgestattet waren. Vielleicht auch an die Throne, die dem Allmächtigen so nahe waren, dass sie schon die göttliche Majestät verkörperten.
Sie konnte sich nicht entscheiden. Sie war zu sehr durcheinander und gab sich selbst gegenüber zu, dass Fürbitten in ihrem Zustand nichts gebracht hätten. Um mit den Engeln Kontakt aufzunehmen, musste man mit sich selbst im Reinen sein, und das war bei Claudine Lanson momentan nicht der Fall.
Sie schaffte es nicht einmal, sich zu konzentrieren. Immer wenn sie es versuchte, dann drang etwas in ihre Gedanken hinein, das sie davon abhalten wollte.
Es war ein dunkler Gruß der anderen Seite. Gefährlich, bösartig und menschenverachtend. Und er war in den vergangenen Sekunden immer stärker geworden, so dass Claudine bereits anfing zu frieren. Eine innerliche Kälte strahlte auch auf ihr Äußeres ab. Die Feinde waren nähergerückt, beobachtet von einem vollen Mond, der als jetzt sattgelbes Auge nach unten glotzte. Selbst der reine Geruch verschwand. Es lag noch nicht lange zurück, da hatte Claudine den Duft der Engel wahrnehmen können. Eine Mischung aus Rosen und Jasmin.
Nun roch sie davon nichts mehr.
Dafür drang etwas anderes in ihre Nase, und es schien von unten her in die Höhe zu steigen. Oder war es überall? Drang dieser Geruch von sämtlichen Seiten auf sie zu?
Es roch so kalt, so fettig. Ein böser Gestank nach irgendwelchen widerlichen Gasen, die von qualmenden Chemikalien hinterlassen worden waren. Der Geruch der Hölle. Eklig, atemberaubend.
Claudine ekelte sich davor. Für sie war der Gestank Beweis genug, dass die andere und düstere Seite der Engel sich ebenfalls auf dem Gelände befand.
Noch stand sie neben dem alten Becken. Sie hatte ihre
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