Das Engelsgrab
linke Hand auf den Rand gelegt, ohne den Stein zu spüren, denn er war von einer dicken Schicht aus Pflanzenresten überwachsen und lag dort wie ein weicher Teppich.
Etwas knackte in ihrer Nähe. Ein Geräusch, das in der Stille doppelt so laut klang.
Claudine zuckte zusammen. Sie schaute nach links über das Becken hinweg, wo sich die Gestalt der steinernen Figur abmalte. Der Engel stand noch dort, aber er war dabei, sich zu verändern. Das Material zeigte erste Risse, die sich von innen her durch den Steinkörper gefressen hatten. Das alte Material konnte dem Druck einfach nicht mehr standhalten. Es riss entzwei. Ein breiter Riss sorgte dafür, dass der linke Arm plötzlich abfiel und in das Becken prallte. Aus der Öffnung drang eine pechschwarze Wolke, als hätte eine Dämon der Hölle ausgeatmet.
Die Frau sprang zurück. Sie wollte nicht von den Trümmern der Figur getroffen werden. Sie krachte noch immer in sich zusammen, und der gesamte Körper war zerrissen. Dort wo er einmal gestanden hatte, breitete sich eine pechschwarze Wolke aus, die einen bestialischen Gestank verbreitete. Es stank nach verfaultem Fleisch, nach Schwefelgasen und Moder.
Das glatte Gegenteil zur absoluten Reinheit der Engel. Hier wurde es Claudine bewiesen und trieb sie in die Flucht. Keine Sekunde länger wollte sie am Ort des Bösen verweilen. Man trieb sie kurzerhand davon, aber Claudine war auch heilfroh, dem Pesthauch der Hölle entwischen zu können.
Ihr Gang glich jetzt mehr dem einer Betrunkenen. So fühlte sie sich etappenweise auch. Ihr Kopf war gefüllt mit einem bösen und fremden Gedankengut, das sie verfolgte. Sie wollte die Reinheit nicht verlieren; dieser Friedhof gehörte den Engeln und nicht ihren dämonischen Feinden.
Claudine entfernte sich weiter von dem Becken. Die stinkende Wolke war schon vom Wind zerrissen worden und verfolgte sie nicht mehr. Die Luft roch wieder reiner, beinahe schon normal, auch wenn der himmlische Duft der Engel fehlte.
Der Vorgang hatte äußerlich und innerlich an Claudines Kräften gezehrt. Sie brauchte eine Pause. Deshalb war sie froh, sich gegen einen Baumstamm lehnen zu können. Sie atmete tief durch. Ihr Herz schlug so schnell wie selten. Die Umgebung nahm sie auch nicht so klar zur Kenntnis. So dauerte es eine Weile, bis sich die Frau wieder gefangen hatte.
Tief die Luft einatmen. Normal bleiben. Positiv denken und nicht mehr an das Böse.
All das hämmerte sich Claudine Lanson ein und schaffte es auch, sich danach zu richten. Mit beiden Handflächen wischte sie durch ihr Gesicht. Dabei hatte sie den Eindruck, Öl von ihrer Haut zu schaben.
Aber es ging ihr besser. Zwar fühlte sie sich noch nicht perfekt oder Top, doch das würde auch noch kommen, davon war sie fest überzeugt, wenn sie erst einmal unter den Schutz ihrer Engel geriet, die von den anderen vertrieben worden waren. Zu lange wollte sie nicht warten.
Innerhalb des Friedhofs existierte ein starkes Gebiet, in dem sich die Kraft der anderen Engel konzentrierte. Es ging um die unmittelbare Nähe der Kindergräber, denn dort erschienen die Engel immer wieder, um zu trauern.
Mit noch immer leicht weichen Knien verließ sie den schützenden Ort unter dem Baum. Claudine bemühte sich, positiv zu denken, um das unsichtbar lauernde Böse der anderen Seite nicht mehr an sich heran zu lassen. Es war nicht einfach für sie. Der im matten Mondlicht liegende Friedhof gab ihr kein Vertrauen mehr zurück. Er gab ihr das Gefühl des Alleinseins, des Verlorenseins. Eine einsame Gestalt, von zu Hause vertrieben, um Zwiesprache mit den Toten halten zu können, dessen Körper längst vermodert waren, aber von unruhigen Geistern aus anderen Sphären bewacht wurden.
Claudine lief immer schneller. Sie musste einfach weg. Es gab nur einen Teil der Hoffnung auf diesem Gelände. Die Gräber der unschuldigen Kinder. Dort würde sie die Nähe der Engel spüren und wieder Kraft schöpfen können.
Manchmal kam ihr das hochgewachsene Unkraut wie lebendig vor. Es griff nach ihr, es peitschte gegen ihre Beine. Es zerrte an der Kleidung, und einige Dornen hatten bereits Löcher in die lichten Tücher gerissen.
Die Gräber der Kinder waren durch schlichte Kreuze geschmückt. Und sie alle standen frei, als hätte sich das hochgewachsene Unkraut geweigert, sie zu überwuchern. Auf sie fiel ebenfalls der Silberschein des Mondes. Er hinterließ den Glanz auf dem Gestein, als wollte er die Kreuze zu etwas Wertvollem machen.
Claudines Herzschlag
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