Das Erbe - Das Tal - Season 2 ; Bd. 2
deutete auf Audrey, eine grazile Dunkelhaarige, die sich direkt vor mir an eine der Türen klammerte. Die einzige Blinde am ganzen College und das reinste Sprachgenie. Sie beherrschte Französisch, Mandarin, Mexikanisch und Deutsch fließend und brachte sich gerade selbst Tibetanisch bei, um später in Tibet blinden Kindern zu helfen.
Clemens … sein Name war Clemens … nahm Audreys Hand und führte sie aus dem Gebäude.
Ich folgte ihnen, unfähig, mich dem Strom entgegenzusetzen, der mich weitertrieb.
Kalte graue Luft schlug mir entgegen, als ich durch die Eingangstür stolperte. Wie eisiger Dampf hüllte der Nebel das Tal ein. Der Boden unter meinen Füßen war hart gefroren, was mich nicht weiter wunderte. Niemand wunderte sich mehr über das Wetter im Tal. Es war pure Zeitverschwendung. Nebelkälte drang durch meine Jacke. Die Sicht betrug nicht mehr als drei, vier Meter.
Securityleute und Polizeibeamte richteten ihre Waffen nervös auf die Menge. Ich betete zu Gott, dass keiner von ihnen durchdrehte und in die Menge ballerte, nur weil er die Nerven verlor.
Im Laufen zog ich das Handy aus der Tasche und prüfte das Display. Las noch einmal die Nachricht, die Chris geschickt hatte.
Code 111. Wir sind in Sicherheit.
Mehr nicht.
»Hat Chris sich noch mal gemeldet?« Mit der Frage löste sich aus Roberts Mund eine Atemwolke nach der anderen. Er schob sich dicht an mich gedrängt nach vorne, einen Ausdruck von Unwillen, ja Widerstand im Gesicht. Er hatte recht gehabt. Wir hätten uns eine Strategie zurechtlegen müssen. Aber die Ereignisse unten im Serverraum und die Entdeckung meines Fotos hatten uns vorzeitig nach oben getrieben.
»Nein, nichts.«
»Du könntest ihm eine SMS senden. Frag ihn, was los ist.«
Eine SMS? Klar, das schien das Einfachste von der Welt. Wir schickten uns schließlich tagtäglich Nachrichten über alltägliche, unwichtige Kleinigkeiten. Wo bist du? Was hast du vor? Wann treffen wir uns? Hast du dieses oder jenes Buch?
Aber jetzt lag das Handy in meiner Hand und etwas in mir weigerte sich, Chris’ Nummer zu wählen. Eine unbestimmte Angst hielt mich davon ab. Sie stand im Gegensatz zu der Zuversicht in mir. Zu der Hoffnung, dass sie sicher in ihrem Versteck im Prüfungsraum saßen. Das Sicherheitssystem war schließlich aktiviert worden, die Türen waren schusssicher. Oder sie hatten es vielleicht doch aus dem Gebäude geschafft.
Trotzdem. »Wenn Chris’ Handy auch nur einen Ton von sich gibt, verrät es ihn vielleicht«, sagte ich. »Ich gehe kein Risiko ein.«
Da war es wieder. Ich gehe kein Risiko ein. Dabei wollte ich doch genau das. Für die anderen durchs Feuer gehen.
Wir folgten also den Anweisungen der Beamten, ihren ständigen Rufen Bewahren Sie Ruhe . Die Menge stolperte vorwärts wie eine Herde Vieh, die sich in eine Richtung treiben lässt. Ich musste eine Gelegenheit finden, mich hier herauszudrängen. Der Nebel würde mich schützen, denn er verschluckte die Menschen um mich herum einfach. Sie verschwanden in der grauen Wand, wurden geradezu aufgesogen von ihr.
Im Gegensatz zur Empfangshalle herrschte hier draußen eine unheimliche Stille. Zwar hörte man das Rattern der Hubschrauber, aber die Studenten selbst sprachen nicht miteinander.
Und merkwürdigerweise löste auch dieses fügsame Schweigen Panik in mir aus.
Vergeblich versuchte ich, mich dem Druck der Menge zu entziehen. Ich drehte meinen Kopf. Robert war jetzt drei Schritte hinter mir. Auch er versuchte, einen Weg heraus zu finden, stehen zu bleiben. Im nächsten Moment stieß ihn der Junge hinter ihm mit der flachen Hand in den Rücken.
Robert verlor das Gleichgewicht.
Seine Brille rutschte hinunter, fiel auf den Boden. Verzweifelt beugte er sich hinunter. Ein weiterer Stoß und sein Hintermann sah einfach zu, wie Robert stürzte und mit den Knien auf dem Boden landete.
Leere, teilnahmslose Blicke trafen ihn. Man stolperte einfach über ihn hinweg. Keine Hand streckte sich aus, ihm zu helfen.
Zorn schoss in mir hoch, auch wenn mir Aggressionen verboten waren, sozusagen mein absolutes Tabu. Aber jetzt geriet ich in Rage, fuhr mit einem Schrei herum, stieß die Nachfolgenden zur Seite. Ich hätte sie schlagen können, vielleicht tat ich es auch. Aber nicht bewusst. Die Kapuze rutschte herunter. Mein Gesicht – jeder konnte mich sehen. Es war mir egal. Ich ging neben Robert in die Knie.
»Meine Brille«, stammelte er.
Ohne Brille sei er blind wie ein Heterocephalus glaber e , sagte er immer.
Weitere Kostenlose Bücher