Das Erbe - Das Tal - Season 2 ; Bd. 2
liegen lassen. Der Schrank, in dem ich saß, würde mein Grab werden.
»Ich finde dich. Hörst du? Ich finde dich.«
Ich hörte ein lautes Krachen, als würden Möbel zerschlagen. Das Geräusch einer Sirene mischte sich in den Lärm, vielleicht eine Minute, dann zwei. Und mit einem Mal, als hätte jemand einen Knopf gedrückt, herrschte Stille.
Ich spürte, wie mein Herz raste. Was tat er jetzt? War er noch hier? Ich konnte die Finger, die sich in die Schranktür krallten, schon nicht mehr fühlen.
Wie viele hatte er getötet?
Sollte ich es riskieren, aus dem Schrank zu klettern? Aber vielleicht hatte er den Raum noch nicht verlassen? Vielleicht wusste er bereits, wo ich mich versteckte? Stand direkt vor der Schranktür und wartete darauf, dass ich aufgab.
Mein Rücken schmerzte. Mein Kopf dröhnte. Meine Beine und Füße waren eingeschlafen. Würden sie mir gehorchen, wenn ich aus dem Schrank kroch und um mein Leben rannte? Aber in welche Richtung, wenn ich nicht wusste, wo der Schütze sich befand? Er konnte überall sein.
Ich konnte das Glas meiner Armbanduhr fühlen, aber in der Dunkelheit nicht erkennen, wie spät es war. Wie viel Zeit war vergangen? Wie lange saß ich schon hier?
Und dann hörte ich jemanden zählen. Ganz in der Nähe. Er war noch im Raum.
»Eins, zwei, drei!«
Dann wieder Stille.
Ein Schuss ertönte.
Er traf den Metallschrank neben mir.
Meine Ohren dröhnten von dem Nachhall und dann wurde das Dröhnen von einem Rauschen abgelöst, das nicht enden wollte. Alles, was ich jetzt hörte, klang unwirklich. Die Schritte, der Atem, das Geräusch, wie das Gewehr geladen und wieder entsichert wurde, die Stimme, die immer wieder rief: »Ich finde dich.«
Bis heute bin ich mir nicht im Klaren darüber, ob er wirklich überzeugt war, dass sich hier im Raum noch jemand befand. Aber ich verstand schon damals: Es ging um etwas anderes. Darum, seine Macht zu manifestieren. Er lief durch den Raum, trat immer wieder mit den Füßen gegen Stühle, Tische und Schränke. Bis er vor meinem Schrank stehen blieb. Und jetzt war ich mir sicher. Er wusste, dass jemand hier drinsaß. Alles andere war nur ein Spiel gewesen, ein Spiel der Angst. Er spürte meine Anwesenheit. Und das war der Moment, in dem ich mich wegbeamte. Einfach ausklinkte aus der Gegenwart. Was hier im Schrank saß, war nur ein Körper. Eine menschliche Hülle, aber mein Geist war anderswo. Er war bei Vic und dem Tag, als wir uns am Wasserfall trafen. Das war in Great Falls so etwas wie ein Ritual. Ich vermute mal, dass das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Ein normales Date, das bedeutete, irgendwo eine Cola trinken zu gehen oder ein Treffen im Kino. Aber sich am Wasserfall zu treffen, hieß erster Kuss. Das war so etwas wie ein gegenseitiges Einverständnis. Ein Versprechen, dass man ein Paar war. Es gab auch Gerüchte, das Ganze ginge auf ein Ritual der Indianer zurück, die früher in diesem Gebiet gelebt hatten. Aber ich glaube, das ist nur eine Geschichte, um diesem Kuss am Wasserfall noch mehr Magie zu verleihen.
Es war Neujahr. Der erste Tag eines neuen Jahrs, das wunderschön zu werden versprach. Und genauso war dieser Tag. Eiskalt, aber wunderschön. Der Himmel war von einem unveränderlichen, unverfälschten Blau. Die Sonne hing wie eine mattgelbe Frisbeescheibe am Himmel und verlieh dem Schnee einen geradezu unwirklichen Glanz. Als wir am Wasserfall ankamen, sahen wir, dass er gefroren war. Das Eis hatte bizarre Formen angenommen und schillerte in allen Regenbogenfarben.
Das war der Moment, als wir uns zum ersten Mal küssten. Der Kuss schmeckte nach Regenbogen, nach Sonne, nach Schnee, nach einem Anfang. Und ich hatte Vic an mich gezogen, damit wir uns gegenseitig wärmten.
Ich spürte jetzt, wie die Tür, die ich noch immer fest an mich gezogen hielt, sich aus meinen Fingern löste. Ich wehrte mich nicht. Vielleicht, weil ich geistig gar nicht richtig anwesend war. Vielleicht ist auch ein Körper, mochte er noch so durchtrainiert sein wie meiner, gar nicht in der Lage zu funktionieren, wenn kein Wille, kein Bewusstsein dahintersteht. Ich habe keine Ahnung.
Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Ich blinzelte, als mich das grelle Licht der Halogenbeleuchtung traf. Und nur allmählich kristallisierte sich ein Gesicht heraus, das mir entgegenstarrte und das ich erkannte.
War er gekommen, um mich aus meinem Gefängnis zu befreien? Mir zu sagen, dass alles vorüber war?
Aber etwas war anders an
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