Das Erbe der Apothekerin - Roman
jedoch vollständig schwanden, wurde ihr noch schemenhaft bewusst, dass Betzens Angreifer kein Mensch, sondern tatsächlich ein Bär war. Die Bestie musste sie überholt haben und zum Wagen geschlichen sein, ohne dass sie es gemerkt hatte. Dann wurde es endgültig Nacht um sie.
KAPITEL 21
AM DARAUFFOLGENDEN TAG war die kleine Gruppe der Mittelpunkt eines fröhlichen Dorffests, das ihnen die überglücklichen Bewohner von Tiefencastel, am Fuß des Oberhalbsteins gelegen, ausrichteten. Das Fell des Untiers – eines ungewöhnlich großen Braunbären – hatten die Dörfler ans Tor ihres Gemeindehauses genagelt, zusammen mit dem Schädel des Viehs, dessen Maul geöffnet war und die blauschwarze Zunge und die spitzen weißen Reißzähne zeigte.
Die Ankömmlinge hatten ihnen die Haut des Bären zum Geschenk gemacht, als die Einwohner ihnen voller Aufregung
davon berichteten, wie das Vieh unter ihren Schafen gewütet und die Menschen nachts auf den Höfen erschreckt hatte. Rolf und Utz hatten der Bestie mit nur zwei tiefen Dolchstichen in Herz und Lunge den Garaus gemacht. Demnach war der dichte Pelz nahezu unversehrt.
Der Ortsvorsteher von Tiefencastel klopfte beiden Männern wegen ihrer Tapferkeit anerkennend auf die Schulter.
»Es gehört allerhand Mut dazu, sich einem solchen Riesentier bis auf eine so geringe Distanz zu nähern! Ihr wollt also entlang der Julia fahren bis zum Septimer Pass und dann längs der Mera, durchs Val Bregaglia, bis zur Stadt Chiavenna nahe des Comersees und dann weiter bis nach Mailand? Da sprechen die Leute aber alle nur noch Welsch.«
»Macht nichts«, entgegnete Rolf dem Schultheiß. »Ich war häufig in Italien und habe mit den Welschen schon so oft Handel getrieben, dass mir ihre Sprache nicht fremd ist. Ich hoffe bloß, dass wir nicht noch öfters so ungute Zwischenfälle erleben.«
»Ihr hattet wirklich den besonderen Segen unseres lieben Herrn Jesus«, mischte sich jetzt der Ortsgeistliche ein. »Dass der Jüngste von Euch nicht mehr abbekommen hat, grenzt an ein Wunder!« Er deutete auf Betz, dessen Arm in einer Schlinge hing und dessen Hals ein dicker Verband zierte, wo der Bär ihn mit seinen Pranken festgehalten hatte.
»Und Ihr, junge Frau« – sein Finger zeigte auf Magdalena und ihren mittlerweile beachtlichen Leibesumfang – »dürft der Muttergottes eine extra dicke Kerze opfern, dass sie Euch und Euer Kind vor Schaden bewahrt hat.«
»Ja, man wagt es gar nicht, sich auszumalen, was alles hätte geschehen können«, gab Rolf zu und legte fürsorglich den Arm um Lena. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn die Bestie meine Frau gerissen hätte.«
Magdalena lief ein Schauder den Rücken hinunter.
Als sie gestern Nacht aus ihrer Ohnmacht erwachte, war alles bereits vorbei gewesen. Rolf hatte sie, nachdem er zusammen mit Utz den Bären erstochen hatte, aufgehoben und behutsam in den Wagen auf ihr Deckenlager gelegt. Vorher hatte er sich allerdings vergewissert, dass ihr wirklich nichts zugestoßen war. Dann hatten sich beide Männer um Betz gekümmert, der einiges abbekommen hatte; aber auch der Junge war mehr oder minder mit leichteren Blessuren und dem bloßen Schrecken davongekommen.
Wieder einmal war alles gerade noch gut ausgegangen. Doch erneut wurde Magdalena ihre eigene Verletzlichkeit vor Augen geführt. Wie leicht hätte sie oder einer ihrer treuen Begleiter sterben können! Ganz zu schweigen von dem ungeborenen Kind … Inständig hoffte sie, dass sie nur endlich bald die Alpen durchquert hätten und in Italien ankämen. Dass sie irgendwann auch wieder nach Deutschland zurückkehren müssten, daran konnte und wollte Magdalena im Augenblick nicht denken.
Von den dankbaren Leuten reich beschenkt mit ein paar großen Kohlköpfen, geräuchertem Speck, frisch gebackenem Brot, eingesalzenen Bachforellen und würzigem Schafskäse – jeder gab, was er entbehren konnte –, zogen die Reisenden aus Ravensburg nach einem feierlichen Dankesgottesdienst schließlich von dannen. Hunderte von Segenswünschen begleiteten sie. Magdalena sprach die ehrliche Hoffnung aus, von nun an vor jeglicher Art von Misslichkeiten verschont zu bleiben.
»Vielleicht schaffen wir es ja und holen Konrad noch vor Mailand ein«, murmelte die junge Frau, doch es klang wenig überzeugt. Rolf äußerte nichts dazu.
Ungewollte Aufenthalte erlebten sie noch häufiger – Magdalenas Zustand war nicht der beste – und mittlerweile war es Mitte August. Das Wetter war zumeist eher
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