Das Erbe der Apothekerin - Roman
selbst als kleines Mädchen von ihrer Großmutter oder von anderen Frauen in der Spinnstube gehört hatte.
»Meine Mutter hatte nie Zeit, um mir Märchen oder andere Sachen zu erzählen«, sagte Betz dann jedes Mal mit leuchtenden Augen. »Sie musste zu viel arbeiten – und dann die vielen Kinder, die sie bekommen hat! Das Einzige, was ich kenne, sind ein paar Geschichten, die der Pfarrer uns in der Sonntagsschule erzählt hat. Von der Erschaffung der Welt, vom Sündenfall, von Kain und Abel und so«, murmelte er beschämt und wartete darauf, dass Lena in ihren Erzählungen fortfuhr.
Sie zeigte ihm auch allerlei Pflanzen, die am Wegesrand wuchsen und die sich als Heilmittel gebrauchen ließen. »Die meisten der Kräuter, die unser Herrgott erschaffen hat, sind für uns Menschen zu etwas nütze, selbst die unscheinbarsten. Ja, sogar Wurzeln, Stängel, Blätter und Baumrinde kann ein geschickter Apotheker für Arzneien gebrauchen.
Du wirst es nicht glauben, Betz, selbst in manchen Steinen ist eine Kraft verborgen, die bei verschiedenen Krankheiten ihre Wirkung entfalten kann.«
»Ach, Ihr seid so klug, Frau Lena!«, seufzte der Knabe des Öfteren. »Könnte ich doch nur von Euch lernen!«
»Wenn es dir wirklich Ernst damit ist, würde ich nichts lieber tun, als an dich weiterzugeben, was ich bis jetzt an Wissen angesammelt habe. Aber ich will dir nicht verhehlen, dass ich selbst noch eine Lernende bin. Es gibt noch so unsagbar Vieles, wovon ich keine Ahnung habe. Aber gemeinsam könnten wir uns vielleicht große Kenntnisse aneignen, die es uns ermöglichten, in ferner Zukunft den kranken Menschen zu helfen.«
»Nichts würde mich glücklicher machen«, erklärte der Jüngling feierlich und zur Bekräftigung legte er eine Hand auf sein Herz. »Ich verspreche Euch, dass ich Tag und Nacht studieren werde, um Euch so bald wie möglich zur Hand gehen zu können.«
»Gut!« Magdalena glaubte ihm und versprach, ihn nach ihrer Rückkehr nach Ravensburg zur Heilerin Gertrude mitzunehmen – sollte sie die Geburt lebend überstehen, was keine Frau jemals vorher wissen konnte. »Wir beide werden uns von Gertrude unterrichten lassen und eifrig studieren«, kündigte sie an.
Als sie ihrem Vetter von diesem Plan berichtete, war er sehr davon angetan. Bedeutete es doch, dass Magdalena sich
dann ständig in seiner Nähe aufhielte … Wo bliebe da noch Platz für Konrad?
Am nächsten Morgen zogen sie bereits in aller Frühe los. Die Wege waren zu dieser Stunde noch nicht so bevölkert, und die Sonne brannte nicht so brennend heiß vom Himmel. Seit zwei Tagen herrschte nahezu unerträgliche Hitze; selbst die wenig anspruchsvollen Maultiere, die sich bisher wacker geschlagen hatten, waren am Ende jeder Tagesetappe völlig erschöpft.
»Wenn wir Glück haben, könnten wir mit Gottes und aller Heiligen Hilfe zu Mittag in Chiavenna sein und gegen Abend am Comersee«, verkündete Rolf seinen Mitreisenden und erntete begeisterte Blicke. Von diesem See hatten sie von anderen Reisenden schon so viel erzählen hören.
Wunderschön sollte er sein, einfach paradiesisch! Und die Blumen, die an seinen Ufern wuchsen, fänden nicht ihresgleichen, von den unsagbar köstlich schmeckenden Fischen ganz zu schweigen.
Alle vier waren an diesem 16. August 1414 in bester Laune. Keiner von ihnen ahnte, dass für zwei von ihnen dieser Tag der letzte ihres Lebens sein sollte.
Immer noch bewegten sie sich im wilden, aber malerischen Val Bregaglia, entlang der ungestüm rauschenden Mera. Zu ihrer Linken erhob sich der mächtige Cima di Castello, der mit seiner ungeheuren Höhe die Gegend beherrschte. Ein Stück weiter im Hintergrund ragte der Monte Gruf empor, und auf ihrer rechten Seite, jenseits der Mera, konnten sie den Gipfel des Pizzo Stella ausmachen.
Ein wandernder Mönch, der allerdings in die entgegengesetzte Richtung, nach Konstanz, wollte, hatte ihnen gestern
Abend noch die Namen dieser in Stein gemeißelten »Götterthrone« verraten. Und die große Ehrfurcht, mit der der fromme Mann sie aussprach, ließ Magdalena beinahe daran zweifeln, dass dieser Klosterbruder wirklich gut katholisch war …
»Wir sind kurz vor Piuro! Das bedeutet, dass wir Chiavenna bald erreichen werden«, verkündete Utz gerade, der sich auf dem Bock kurz umdrehte, um Magdalena Bescheid zu geben. Rolf marschierte neben dem Mauleselgespann einher, und Betz kauerte neben Magdalena.
Der Junge, der sich noch im Stimmbruch befand, war nicht davon abzubringen,
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