Das Erbe der Apothekerin - Roman
wusste er noch viel weniger. Und von der Tatsache, dass ein Skrupel 20 Gran enthielt und somit ein Gran 0,0625 Gramm wog, hatte er natürlich erst recht keinen blassen Schimmer – genauso wie ihm unbekannt war, dass dieses winzige Gewicht einem einzigen Pfefferkorn entsprach.
Der Umstand, dass er unlängst den Vermerk »S« des Arztes hinter der Mengenangabe eines Rezeptes übersehen
hatte, weil er es überhaupt nicht verstand, sondern für einen belanglosen Krakel gehalten hatte und nach seiner üblichen Weise die Ingredienzien des Medikamentes nur »nach seinem Gefühl« abmaß, hätte den Patienten beinahe ins Jenseits befördert.
War das Heilmittel doch ein höchst gefährliches Gift, das genauestens dosiert werden musste: In diesem speziellen Fall waren sämtliche Bestandteile nur »hälftig« (S bedeutete nämlich ›semi‹, also halb) zu vermengen. Zum Glück war der Kranke noch jung und von robuster Konstitution; nur so überlebte er den fatalen Irrtum des Stadtapothekers.
Mauritz Scheitlin wurde ausgesprochen übel, sooft er daran dachte. Wie leicht hätte ihn dieser folgenschwere Fehler für den Rest seines Lebens in den Kerker bringen können – oder man hätte ihn gar um einen Kopf kürzer gemacht.
Wenz, der nach genauer Inspektion der Apotheke seinen Dienst auch sofort antrat, war für Mauritz daher eine wahre Erlösung – und für die Ravensburger ebenso, von denen manch einer in letzter Zeit schon erwogen hatte, ob es bei kleineren Leiden der Gesundheit nicht zuträglicher sei, abends einen Krug Bier mehr zu trinken, als sich mit den falsch portionierten Medikamenten zu vergiften …
Die Lage der Italienreisenden Rolf und Magdalena gestaltete sich zunehmend prekärer. Bereits mehrmals waren sie im Gebirge kampfbereiten Bauernhaufen und Söldnertruppen begegnet, die sie alles andere als liebenswürdig behandelten. In einer Reihe von Bergdörfern waren sie nicht willkommen, sondern wurden so misstrauisch beäugt, dass sie schleunigst das Weite suchten.
Auf »die Habsburgischen« waren die Einheimischen allesamt nicht gut zu sprechen, und da Rolf Reichle und sein
Trüppchen aus Ravensburg kamen, vermuteten sie in ihnen habsburgische Spitzel. Das hatte zur Folge, dass sie und ihre Wagenladung wiederholt auf das Genaueste gefilzt wurden. Und dass die Fuhre aus Waffen bestand, trug auch nicht gerade zur Besänftigung der kriegerischen Banden bei.
»Es ist direkt ein Wunder, dass uns die Kerle nicht längst alle Armbrüste abgenommen haben«, knurrte Utz gerade, nachdem sie wieder einmal eine der zahlreichen »Kontrollen« überstanden hatten, und sein Herr lachte bitter auf.
»Fast noch mehr erstaunt mich, dass sie uns bis jetzt noch nicht kurzerhand am nächsten Baum aufgeknüpft haben«, flüsterte er so leise wie möglich, um Magdalena nicht unnötig zu beunruhigen. Sie litt ohnehin schon genug. Ihr körperlicher Zustand wurde allmählich kritisch, der Weg immer schwieriger; das Wetter war launisch und wechselhaft, und vor allem die ständigen Unterbrechungen durch die feindseligen Eidgenossen machten die Reise zunehmend unerfreulich.
»Bis jetzt haben sie mir geglaubt, dass ich ein friedlicher Waffenschmied und Handelsmann bin, der mit den Italienern Geschäfte macht. Aber wer weiß, was uns das nächste Mal blüht? Dass sie unverschämte Wegezölle verlangen – davon will ich gar nicht reden. Das machen die Habsburgischen genauso. Profit werde ich dieses Mal wohl kaum einfahren.«
Von Konrad Grießhaber redete das Mädchen zu Rolfs Erstaunen schon längere Zeit nicht mehr. Fast schien es ihm, als habe sie sich den reichen Kaufherrn aus dem Kopf geschlagen. Er hätte das nur begrüßt – malte er sich in den wenigen nächtlichen Mußestunden doch längst aus, wie es wohl wäre, Lena zur Frau zu nehmen …
Davon, sie als seine norwegische Verwandte auszugeben, war er mittlerweile abgekommen. So weit entfernt von Ravensburg und vom Bodensee sah er für das Mädchen keine
Gefahr mehr. Sie waren übereingekommen, sich bei den Leuten als verheiratetes Paar vorzustellen, das zum ersten Mal Nachwuchs erwartete. Rolf wünschte immer inständiger, es verhielte sich wirklich so.
Dass sie miteinander verwandt waren, sah der Schmied nicht als unüberwindlichen Hinderungsgrund für eine eheliche Verbindung an. Das bedeutete nur, dass er um kirchlichen Dispens bitten und eine ordentliche Summe Geld entrichten müsste. Aber das täte er mit Freuden. Einstweilen begnügte er sich damit, das Thema
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