Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
umzubringen!«
Auf ihrem weiteren Weg sah Blithildis überall das gleiche Bild: Die Menschen gerieten in Zorn, sie bewaffneten sich und zogen los, dahin, wo gekämpft wurde.
Tut es nicht!, wollte Blithildis ihnen zurufen. Es ist alles nur das Werk eines Mannes, der euch ins Verderben stürzen will! Doch sie brachte kein einziges Wort heraus, nur ein lautes Stöhnen, denn die Kopfschmerzen hatten sich in ein rasendes, fauchendes, ihren Schädel zerfleischendes Ungeheuer verwandelt. Ihre Sicht trübte sich immer mehr, sie sah kaum noch etwas.
Ich muss heim, durchfuhr es sie. Aber wo war ihr Zuhause? Bilder schossen ihr durch den Kopf. Ihr altes Elternhaus in der Rheingasse, sie und Johann und ein paar andere, unter ihnen auch Ursel Hardefust, die immer mitspielen wollte und von den anderen Kindern gehänselt wurde, weil sie in Johann verliebt war. Die Wasserburg bei Kerpen, wo sie später lebten, für eine wundervolle, friedliche Zeit, bis zu Vaters Tod, und danach noch ein paar traurige Monate, in der sie und Mutter versucht hatten, das Leben ohne ihn zu meistern. Es wäre ihnen gelungen. Doch dann hatte ein einziger Tag alles ausgelöscht.
Die Erinnerungen und Bilder verschoben sich, wechselten in verwirrender Reihenfolge, bis sie sich in zuckende Blitze verwandelten, die sich hinter ihren Augen tief ins Innere ihres Kopfes hineinbohrten. Sie versuchte zu beten, doch es ging nicht. Sie musste heim. Nur dann konnte alles gut werden. Mit ausgestreckten Händen torkelte sie weiter, stützte sich ab, wo immer sie Halt fand, geriet schließlich an einen Menschen, der sie umfasste und aufrichtete.
»Um Christi willen«, hörte sie eine Frauenstimme, danach eine zweite, und dann nur noch Satzfetzen. »Die Begine … ja, aus der Glockengasse … bestimmt unter die Mordbanden der Richerzeche geraten … heimbringen …«
Hände fassten sie unter, hielten sie, zogen sie weiter.
Sie konnte aufhören zu denken. Man brachte sie nach Hause.
Johann hatte schon im Morgengrauen mit dem Kochen und Braten des Festessens begonnen, bereits lange vor dem Kirchgang hatten verheißungsvolle Düfte das Haus erfüllt. Irmla musste ihm zuarbeiten, er gönnte ihr keine Pause und scheuchte sie mit knappen Kommandos zwischen Vorratskammer, Tisch und Feuerstelle hin und her. Sie fuhrwerkte schwitzend um ihn herum, das Gesicht eine einzige Leidensmiene, eine Sklavin hätte nicht verzweifelter dreinschauen können. Dann endlich wurde sie vom Glockenläuten erlöst, es ging zur Kirche. Ihr blieb gerade noch genug Zeit, den alten Arbeitskittel aus- und das Festgewand nebst Gebende anzuziehen. Auch Johann legte seinen besseren Surcot an, wusch sich Gesicht und Hände und war bereit zum Aufbruch. Madlen, die sich aus der Kocherei herausgehalten und stattdessen mit Veit und Cuntz am Tisch gesessen hatte, freute sich auf den Tag. Auf das Essen, das sie nach ihrer Rückkehr von der Kirche verspeisen würden, auf das Beisammensein mit Johann, Großvater, Veit und dem Gesinde – auf das ganze Leben. Während sie in der Kirche der feierlichen Predigt des Priesters lauschte, begriff sie, was mit ihr geschehen war. Zunächst ganz unbemerkt, aber doch beharrlich hatte sich das Glück wieder in ihr Leben gestohlen. Nicht lachend und strahlend wie damals in der ersten Zeit ihrer Ehe mit Konrad, sondern leise und zögernd, immer wieder aufgehalten von Hindernissen und Zweifeln. Johann stand neben ihr, er hatte die Hände gefaltet und hielt den Kopf gesenkt. Sie bezweifelte, dass seine Andacht von Herzen kam, sie spürte, dass er sich nichts aus dem Beten machte, er tat es eher wie jemand, der es hinter sich bringen musste, weil es sich nun einmal so gehörte und weil er nicht unangenehm auffallen wollte. Doch das kümmerte sie nicht. Sie sah nur seine schwieligen Hände, seinen gebrochenen Daumen, die Narben an den Gelenken. Sein Profil mit der ebenfalls gebrochenen Nase, die Narben an seiner Wange, die dunklen Brauen über den gesenkten Lidern, die klaren Linien seiner Stirn. Ein tiefes Gefühl durchströmte sie bei seinem Anblick, es wärmte ihr Inneres und ließ sie ihren eigenen Herzschlag hören.
Sie erkannte, dass sie ihn liebte.
Diese Gewissheit traf sie unvermittelt und verstörte sie eher, als dass es eine beseligende Empfindung in ihr ausgelöst hätte. Es kam ihr wie Verrat an ihrer Liebe zu Konrad vor. Dabei war es nicht einmal so, als wäre ihre Liebe zu ihrem ersten Mann vergangen, sie war immer noch da, bittersüß und schmerzlich
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