Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
Ähnliches schon zu oft erlebt, um dem Knecht Feigheit oder Langsamkeit vorwerfen zu können. Tatsächlich war der ganze Kampf binnen Augenblicken zu Ende gewesen, alles hatte kaum mehr als ein paar Herzschläge gedauert, und Caspar hatte an einer ungünstigen Stelle gestanden, er hatte weder Zeit noch Gelegenheit zum Eingreifen gehabt.
Johann blickte sich um, doch Willi war nirgends zu sehen. Im nächsten Augenblick kam der Junge unter dem Tisch hervorgekrochen. Sein Gesicht war hochrot, sein Mund zitterte. Seine Augen schwammen in Tränen. Auch hier fand Johann es nicht angezeigt, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Der Junge war vierzehn, und Todesangst war eine zu mächtige Kraft, um ihr mit dem Verstand begegnen zu können. Wenn sie die Menschen in die Flucht schlug oder ins Versteck zwang, so war dies allein Gottes Wille. Manchen trieb sie auch zum Angriff, so wie Berni, und in solchen Fällen wurde die Angst mit wohlklingenden Namen belegt, man nannte sie dann Mut oder Tapferkeit, und wer dabei umkam, war ein Held. Willi musste sich selbst für einen ausgemachten Feigling halten, es würde ihm für den Rest seines Lebens nachhängen, dass er sich unter den Tisch geflüchtet hatte, während Berni, ein Jahr jünger und deutlich schmächtiger als er, sich, ohne zu zögern, einem übermächtigen Feind entgegengeworfen hatte.
Doch nach außen hin fing sich Willi bereits wieder. Stumm wischte er mit dem Handrücken seine Nase ab und stand auf. Vor den Toten schien es ihn nicht zu grausen, er trat zu dem hin, der ihm am nächsten lag, packte die Forke und riss sie ihm mit einem Ruck aus der Brust. Trotzig und ein wenig unsicher blickte er in die Runde, als wolle er klarstellen, dass auch er seinen Teil beigetragen hätte, wenn das Schicksal es nicht verhindert hätte.
Johann ging zu Berni und hob den schlaffen Körper auf. Der Junge war überraschend leicht, und doch drückte es Johann den Atem ab, das tote Kind in seinen Armen zu halten. Seine Augen brannten, als er auf das schmale, wachsbleiche Gesicht hinabblickte, wo keine einzige Sommersprosse mehr zu erkennen war. Dafür sah er andere Einzelheiten. Das rostrote Haar hatte über der Stirn einen eigensinnigen Wirbel, und am Haaransatz war eine winzige Narbe zu sehen, zweifellos Folge eines der vielen Missgeschicke, mit denen der Junge sich immer herumgeschlagen hatte.
»Bringt die anderen Leichen hinaus auf den Hof«, sagte Johann mit rauer Stimme zu Caspar und Willi. Erschöpft wandte er sich zu Madlen um. »Veits Wunde muss genäht werden. Bist du dazu imstande oder soll ich es tun?«
»Ich mache es«, sagte sie tonlos und ohne aufzublicken, während er mit dem toten Jungen in den Armen an ihr vorbei zur Hintertür ging. Er glaubte zu spüren, was sie dachte. Ihn hätten die Männer töten sollen, nicht Berni. Seinetwegen hatten sie die Tür aufgebrochen, auf seinen Tod waren sie aus gewesen. Wäre er nicht hier gewesen, wäre all das nicht geschehen, niemand wäre zu Schaden gekommen.
Er hatte vorgehabt, sie alle von hier fortzubringen. Am Palmsonntag, in einer Woche. Ein Ausflug, vielleicht nach Deutz oder Rodenkirchen, irgendwohin, nur aus der Stadt heraus, bis der Krawall vorüber war. Johann hatte einen gallebitteren Geschmack im Mund. Die Perfidie, mit der Wendel Hardefust die Ausführung dieses Plans vorbereitet hatte, war nicht zu übertrumpfen. Einfach einen späteren Zeitpunkt für den Angriff vorzugaukeln und das Opfer damit in Sicherheit zu wiegen war ebenso raffiniert wie wirkungsvoll. Und er selbst war dumm genug gewesen, Sewolt zu glauben, ausgerechnet Sewolt, der von jeher immer nur dem Herrn gedient hatte, von dem er sich die meisten Vorteile versprach.
Draußen legte er Berni abseits von den anderen Toten ins Gras, unter den blühenden Pflaumenbaum. Hier im Garten war es friedlich und ruhig. Über ihm strich der Wind durch das Geäst und wehte einige der winzigen Blütenblätter herab, Johann spürte ihre sachte Berührung auf seinem Gesicht. Doch als er sie abstreifen wollte, ertastete er auf seinen Wangen nur Tränen.
Einige Tage später, 2. Aprilwoche 1260
Konrad von Hochstaden stand an der Stirnseite des gewaltigen Saals, der über zwei Geschosse des Bischofspalastes reichte und für das Schauspiel, das sich ihm soeben bot, den angemessenen Rahmen bildete. Ein wildes Triumphgefühl bemächtigte sich seiner, als er seine Feinde auf den Knien über den Steinboden rutschen sah, die Köpfe tief gesenkt, die Schultern verkrampft
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