Das Erbe der Braumeisterin - Thomas, C: Erbe der Braumeisterin
Atem entweichen zu lassen. Während er seinem Vater folgte, warf er keinen Blick zurück.
Im Goldenen Fass ging es hoch her, die Schänke war lange nicht so stark besucht gewesen wie an diesem Abend. Madlen hatte Willi aus dem Bett holen müssen, damit er beim Bedienen half. Sie selbst stand am Schanktisch und zapfte, bis ihr die Hände wehtaten, während Johann, Caspar und Willi in raschem Wechsel die vollen Becher zu den Tischen brachten und Irmla das Essen heranschleppte. Schon drei Mal hatte Johann ein frisches Fass aus dem Keller holen müssen, und Irmla kam kaum nach mit dem Anrichten und Servieren von Brot, Speck und Räucherhering. Die Gäste waren glänzender Stimmung, ständig wurden neue Trinksprüche ausgebracht, und es flogen Zoten hin und her, von denen die meisten den übertölpelten Geschlechtern galten. Aus dem Stegreif wurden Spottverse gedichtet und, untermalt mit den Melodien bekannter Lieder, vor versammelter Runde zum Besten gegeben, bis die Leute sich die Seiten hielten vor Lachen und nach mehr Bier und Speck schrien, weil die gute Laune ihren Durst und die Lust am Essen förderte. Die Wandleuchten flackerten und tauchten den Raum in ein warmes Licht. Der Geruch von Räucherfisch, gebratenem Speck und frisch gezapftem Bier mischte sich mit den Ausdünstungen der Menschen, die Luft stand förmlich, obwohl die Läden geöffnet waren. Nicht alle Gäste hatten Plätze zum Sitzen gefunden, manche lehnten an den Wänden, andere drängten sich um einen behelfsmäßigen Stehtisch, den Johann aus zwei aufeinandergestapelten Fässern in der Ecke aufgebaut hatte.
In der drangvollen Enge fiel es zunächst niemandem auf, dass eine vornehm gekleidete Frau in die Schänke geschlüpft kam. Verstohlen schob sie sich durch die Tür und schaute sich verstört um. Schließlich fiel ihr Blick auf Johann, der alle Umstehenden überragte, und beinahe gleichzeitig bemerkte auch er sie und kämpfte sich zu ihr durch.
»Ursel!«, rief er. »Was machst du denn hier?«
Ihr Gesicht wirkte entschlossen, obwohl die vielen Menschen um sie herum sie zu irritieren schienen. Abermals sah sie sich scheu um, dann zog sie, genau wie beim letzten Mal, einen zusammengerollten Brief hervor und drückte ihn Johann in die Hand. Er steckte ihn sofort hinter seinen Gürtel und wandte den Kopf zum Schanktisch, und tatsächlich, Madlen blickte ihn und die Frau, die bei ihm stand, mit bohrendem Blick an. Gleich darauf blitzten ihre Augen vor Zorn, denn Ursel trat noch dichter an ihn heran und umarmte ihn. Sie presste sich an ihn, als hätte sie ihr Lebtag nichts anderes getan. »Ich werde dich immer lieben!«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Mein Herz gehört auf ewig dir!«
»Ursel, ich …«
»Mir ist klar, dass du bereits ein Weib hast, Liebster, weshalb ich dem Schwur unserer Kindheit wehen Herzens entsage. Ich nehme den Schleier. Es ist schon entschieden. Und Simon – er geht von hier fort, weit weg, vielleicht nach Venedig, dort lebt ein Onkel von Diether. Schon heute Nacht wollen wir uns davonstehlen. Wir haben uns besprochen, Simon und ich, und wir beide sind uns einig, dass es so das Beste ist. Für ihn, für mich, für dich.«
»Was meinst du damit, Ursel?«
»Lies den Brief, Johann. Dein Leben hängt davon ab. Und nun muss ich fort, Vater darf nicht erfahren, dass ich hier war.« Zaudernd blickte sie zu ihm auf, dann hob sie sich auf die Zehenspitzen und presste ihre Lippen auf seinen Mund. »Leb wohl, Johann!« Im nächsten Moment hatte sie sich umgedreht und sich an ein paar anzüglich grinsenden Gästen vorbei nach draußen gedrängt.
»Was war das denn?« Madlen stand dicht hinter ihm. Ihre Stimme klirrte wie Eis, und Johann wandte sich betreten zu ihr um.
Gleich darauf wurde er abgelenkt, denn trotz der späten Stunde betrat noch jemand die Schänke. Sofort fing sein Puls an zu rasen, seine Hand zuckte zum Dolch.
Vorn bei der Tür stand Drago.
Johann sammelte sich und ging zu ihm hinüber.
Madlen starrte Johann perplex nach. Der Zorn, der sie beim Anblick dieser Ursel gepackt hatte, war bereits beim Anblick des Kusses in nie gekannte Höhen übergekocht, aber dass er sie trotz der erdrückenden Tatsachen einfach hier stehen ließ wie eine Dienstmagd, um bei einem neuen Gast die Bestellung aufzunehmen, schlug dem Fass den Boden aus. Sie war drauf und dran, mitten unter all den Leuten die Beherrschung zu verlieren und ihn anzuschreien, so wie sie es sonst nur beim Gesinde tat. Dann sah sie, wer der Gast war; es
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